Der langsame Walzer der Schildkroeten
mir kommen? Bei den Lefloc-Pignels läuft irgendwo Wasser aus, ich muss nachsehen, aber ich will nicht allein in ihre Wohnung gehen. Falls sie nachher behaupten, ich hätte etwas geklaut!«
»Ich komme, Iphigénie!«
»Darf ich mitkommen?«, fragte Iris.
»Nein, Madame Dupin, er wäre nicht begeistert, wenn ich fremde Leute in die Wohnung ließe.«
»Er wird es doch nie erfahren! Und ich möchte so gerne sehen, wo er lebt …«
»Tja, Sie werden es nicht sehen! Ich will keinen Ärger!«
Iris hatte sich wieder hingesetzt und den Teller mit Spaghetti von sich geschoben.
»Ich habe dieses Leben hier so satt! Ihr kotzt mich an! Alle! Verschwindet doch einfach!«
Schnaubend hatte Iphigénie sich auf dem Absatz umgedreht, und Joséphine war ihr gefolgt.
»So eine blöde Kuh! Kaum zu glauben, dass Sie beide Schwestern sind!«
»Ich ertrage sie nicht mehr, Iphigénie, es ist schrecklich! Ich höre gar nicht mehr hin, wenn sie redet. Sie wird immer mehr zu einer Karikatur ihrer selbst. Wie kann man sich nur so schnell verändern? Sie war die eleganteste, kultivierteste, vornehmste Frau, die man sich denken kann, und jetzt ist sie …«
»Ein verbittertes, gehässiges Weibsstück. Mehr nicht!«
»Nein. Sie übertreiben! Immerhin ist sie unglücklich, das darf man nicht vergessen!«
»Sie gehen mir auf den Keks mit Ihrem Mitleid, Madame Cortès! Sie ist so reich, dass sie nicht weiß, wohin mit ihrem Geld, sie hat einen Mann, der alles bezahlt, sie braucht sich nicht abzurackern und jammert trotzdem den ganzen Tag nur rum! Es ist immer das Gleiche mit den Reichen, sie wollen alles. Sie glauben, mit ihrem Geld könnten sie sich alles kaufen, sogar Glück, und wehe, wenn sie mal unglücklich sind, dann werden sie fuchsteufelswild!«
Die Wohnung der Familie Lefloc-Pignel lag im Halbdunkel, als sie sie auf Zehenspitzen betraten.
»Ich komme mir vor wie ein Einbrecher«, flüsterte Joséphine.
»Und ich wie ein Klempner!«, antwortete Iphigénie, die schnurstracks in der Küche verschwand, um das Wasser abzudrehen.
Joséphine spazierte durch die Wohnung. Im Wohnzimmer waren alle Möbel mit weißen Tüchern abgedeckt. Es sah aus wie eine Versammlung von Geistern. Sie erkannte zwei niedrige Sessel, eine Bergere, ein Sofa, ein Klavier und in der Mitte des Zimmers ein großes rechteckiges Möbelstück, das wie ein Sarg auf einem Katafalk thronte. Sie hob einen Zipfel des Lakens an und entdeckte ein riesiges Aquarium ohne Wasser mit Kieseln, flachen Steinen, Zweigen, Baumrinden, Wurzeln, Tonscherben und Schilfhalmen. Was halten sie da drin? Frettchen, Vogelspinnen, Boas? Aber wo bringen sie sie unter, wenn sie in Urlaub fahren?
Das nächste Zimmer musste das Elternschlafzimmer sein. Die Vorhänge waren zugezogen, die Rollläden heruntergelassen. Sie schaltete das Licht ein, und ein großer Kronleuchter mit Tropfen aus farblosem Glas erhellte das Zimmer. Über dem Bett hingen ein Kruzifix mit einem trockenen Palmzweig und ein Bild der heiligen Therese von Lisieux. Joséphine trat an die Wand heran, um die Familienfotos zu betrachten. Sie sah Monsieur und Madame am Tag ihrer Hochzeit. Die Braut im langen weißen Kleid, der Bräutigam in Cut und Zylinder. Sie lächelten. Madame Lefloc-Pignel hatte den Kopf an die Schulter ihres Mannes gelegt. Sie sah aus wie ein kleines Mädchen bei der Erstkommunion. In den anderen Rahmen konnte man die Taufen der drei Kinder, die verschiedenen Etappen ihrer religiösen Erziehung, Weihnachtsfeiern im Familienkreis, Ausritte, Tennispartien und Geburtstagsfeiern verfolgen. Gleich neben den Fotos bemerkte Joséphine ein fett gedrucktes Schriftstück in einem vergoldeten Rahmen. Sie beugte sich vor und las:
Auszug aus einem katholischen Handbuch zur rechten Haushaltsführung für Frauen aus dem Jahr 1960
Sie haben sich vor Gott und den Menschen vermählt.
Nun müssen Sie sich dieser Aufgabe gewachsen zeigen.
BEVOR ER ABENDS NACH HAUSE KOMMT
Bereiten Sie alles vor, damit ihn ein köstliches Essen erwartet. Das ist eine Möglichkeit, ihn wissen zu lassen, dass Sie an ihn gedacht haben und sich seiner Bedürfnisse annehmen.
MACHEN SIE SICH BEREIT
Ruhen Sie sich fünfzehn Minuten aus, damit Sie entspannt sind. Frischen Sie Ihr Make-up auf, fassen Sie Ihr Haar mit einem hübschen Band zusammen und machen Sie sich ansprechend zurecht. Er hat den ganzen Tag in Gesellschaft sorgengeplagter, von Arbeit überlasteter Menschen verbracht. Es gehört zu Ihren Aufgaben, ihn diesen harten Tag
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