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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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auf einer Insel im Meer.
    Sie hielt viel von der Obrigkeit, je weiter oben, desto besser. Nicht weil die Obrigkeit von Gott gegeben war, wie Dr. Luther behauptete, sondern weil es einzig mit ihr lohnte – beispielsweise über eine Insel – zu verhandeln. Mit Exzellenzen, nicht mit niederen Chargen.
    Der Kaiser selbst, Wilhelm II., hatte ihr im Jahr 1899 bei einem Truppenbesuch in Cottbus die Rassel aufgehoben.
    Hat sich gebückt … – Als meine liebe Mutter, sagte Erdmuthe, den hochrädrigen Wagen zur Parade fuhr. Wo mein lieber Vater den frisch geölten Karabiner seinem Kaiser präsentieren durfte und ich missgelaunt die Rassel aus dem Wagen warf. – Hat sich gebückt die Majestät. Regelrecht verneigt, so mochte es manchem verblüfften Zuschauer erschienen sein. Hat sich hinabgebeugt zum Straßenpflaster und das Spielzeug aufgehoben.
    Dann hatte sich der Kaiser mit der Rassel in der erhobenen Hand den Umstehenden zugewandt und, wie Erdmuthes Mutter später behaupten sollte, das Instrument mehrmals geschüttelt. In diesem Moment habe sich der schnauzbärtige Kaiser mit versonnenem Lächeln in einen mexikanischen Musikanten verwandelt, die Bartspitzen nicht länger aufgezwirbelt und steif, sondern wippend im Rhythmus wie die Fußspitzen der Zuhörer. Der Kaiser fortan tingelnd durch Straßencafés und rhythmisch überVolksfeste rasselnd – die Weltgeschichte wäre anders verlaufen, friedlicher vielleicht.
    Doch so winzig muss dieser Moment gewesen sein, da mitten im grauen Monat November eine andere Existenzmöglichkeit das deutsche Staatsoberhaupt umwehte, dass er lediglich in der märchenhaften Überlieferung von Erdmuthes Mutter einen Platz gefunden hatte.
    Keine Erwähnung aber fand dieser utopische Augenblick im
Cottbuser Anzeiger
am darauffolgenden Tag. Dessen vergilbt brüchige Titelseite hatte die Tante gelegentlich als Beweisstück vorgelegt:
    Platz an der Sonne für alle – kaiserliche Fürsorge gilt auch den jüngsten Cottbusern!
    Auch nicht vermerkt war da, dass zwei, drei Kinderwagen weiter Erdmuthes künftiger Schwager und Helders künftiger Großvater Hans Kaspar den Tschinellen und Trompeten der Militärkapelle des 3. Brandenburgischen Armeekorps kontrapunktisch entgegenplärrte. Dies, um sich, unbeeindruckt von versprochenen Sonnenplätzen, eine warme milchduftende Brust zu verschaffen.
    Vom Verbleib der kaiserlichen Vision berichten die Historiker, von der des Kindes Hans können wir sagen, dass sie sich immerhin in einer kuhmilchgefüllten Glasflasche manifestierte, die ihm wenig später ein achtzehnjähriges Mädchen mit romantischem Blick verabreichte. Sie war eine Angestellte des Cottbuser »Stifts für vaterlose Waisen« und hieß Carla.
    Hans Kaspar nämlich war gefunden worden. Eines strahlendblauen Wintermorgens hatte ein Bahnwärter ihn auf einem Bahnsteig des Cottbuser Bahnhofs entdeckt. Unbekümmert um an- und abfahrende Züge, zwischen hin und her hastenden Reisenden schlief der Findling warm verpackt in einer wie vergessen dastehenden Reisetasche. Dies jedenfalls berichtete Eisenbahner Brügg der Polizei, die ihn nach Protokollierung des Falls zum Kinderheim schickte.
    Nachdem Carla, die gerade ihren ersten Dienst absolvierte, Geschlecht und Maße sowie Fundort und -zeit auf eine Karteikarte geschrieben hatte, betrachtete sie ausführlich das Kind. Das erste Mal hielt sie einen so jungen, offenbar erst wenige Tage alten Säugling auf dem Arm. Welchen Namen sollte sie ihm geben?
    Nachdem sie eine Weile den nach oben gerichteten dunklen Blick des Kindes beobachtet hatte, setzte sie den Namen Kaspar oberhalb der verstärkten roten Linie auf die Karte. Kaspar, dachte Carla, wie Kaspar Hauser.
    Noch heute müht sich die Wissenschaft herauszufinden, ob es sich bei Hauser um einen badischen Erbprinzen oder einen gewöhnlicheren Betrüger gehandelt hatte. Vergebens, es scheiterte sogar die Genetik. Was für ein Glück! Nicht nur eine schöne Geschichte ginge verloren. Wir leben alle von dem Glauben, Erbprinzen zu sein, und sind am Ende nur Betrüger, die dem Leben ein wenig Glück abluchsen wollen. Und so bleibt Hauser unser dunkler Bruder, dessen Nachthimmelblick uns immer neue unentdeckte Sterne zeigt.
    Schwester Carla hatte beim jüngsten Besuch der Volkshochschule einem Vortragsreisenden namens Steiner gelauscht und den für sie bemerkenswerten Satz notiert:
Wäre der Findling Kaspar Hauser nicht geboren, so wäre die Verbindung zwischen uns und der geistigen Welt vollkommen

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