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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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das Gefühl, wenn er ihn jetzt davonfahren ließe, würde noch etwas sterben.
    Aber er schwieg.
Einer sieht immer zu.
Diesmal nicht nur einer. Alle würden zusehen: Wie er hinzuspränge, um dem kältestarren Körper die Schuhe von den Füßen zu reißen. Wie die Sanitäter sich mühten, ihn erst zu beruhigen, dann gewaltsam zurückzuhalten. Wie er im entstehenden Handgemenge zu Boden ginge. Wie er die Schlagzeile läse: Bahnbeamter bestiehlt toten Sozialhilfeempfänger!
    Haben Sie schon gehört, der Kollege Helder hat …
    Hat der das nötig? Nein, wie peinlich!
    Er hätte ja nicht einmal beweisen können, dass es seine Schuhe waren. Oder hätte er sich als Angehöriger ausgeben sollen? Nein, er schwieg, stand reglos da und sah dem davonfahrenden Rettungswagen nach. Der Penner tot, die Schuhe weg. Sie hatten ihm offenbar nicht viel genützt.
    Nachts, traumloses Wälzen. Nein, keine klaffenden Spalten, nicht ein einziger rotglühender Riss. Gerade das war beunruhigend: diese Traumlosigkeit.
    Morgens fuhr er ins Klinikum, rief von unterwegs im Büro an und meldete sich krank. Im Krankenhaus fragte er sich durch. Er sei ein Angehöriger des toten Obdachlosen.
    Der von gestern?
    Ja, der wird es sein.
    Hätten sich ja auch eher um Ihren Bruder kümmern können!
    Nein, nein, Helder wehrte sich heftig gegen diesen Verdacht, nein, ich bin nur ein Cousin, das heißt ein Schwager seiner Cousine über zehn Ecken …
    Die drahtige Schwester sah ihn streng an: Na, jedenfalls einer, der die Kosten übernehmen kann. Oder?!
    Ich?
    Strengerer Schwesternblick.
    Ja, sicher, selbstverständlich.
    Wollen sie ihn noch mal sehen?
    Nein, nein, nicht nötig. Ich habe ihn erst gestern … da war er schon tot, ich meine, ich kam zufällig dazu.
    Nachdem die Schwester seine Personalien aufgenommen hatte – nur wegen der Rechnung, sagte sie –, wagte er nach den Sachen seines neuen Verwandten zu fragen.
    Die Schwester musterte ihn mitleidig und führte ihn kopfschüttelnd zu einem Container. Er fühlte sich wie ein Leichenfledderer, als er die Schuhe aus dem Behälter fischte.
    Ein paar Tage später ging Helder, er fühlte sich dazu verpflichtet, zur Beerdigung des Obdachlosen. Ein kleines Erdloch, ein kleines Töpfchen, weg war der Penner. Einmilder Vorfrühlingswind hockte in den Hecken, Tauwetter, und der Friedhof klebte an den Schuhen. Helder lud den Totengräber ein zu einem Schnaps. Der Erdarbeiter philosophierte übers Sterben und inspizierte dabei der Bedienung gründlich den Ausschnitt.
    Seltsam, dachte Helder, ein atlantischer Tiefausläufer mit milder Meeresluft nur wenige Tage früher eingetroffen, und ein Penner würde noch leben. Und ich hätte die Schuhe meines Großvaters niemals wiedergesehen.
    Ein bisschen war ihm, als hätte er eben nicht einen Fremden, sondern seinen Großvater begraben. Aber von dem Penner wusste er wenigstens, wie er gestorben war, von seinem Großvater nichts. Einzig, was er für Schuhe getragen hatte, das wusste er.
    Immerhin war da schon eine Vorstellung. Nein, nicht mehr die kindliche Vorstellung vom gütigen Zauberer im Feuerberg. Eher eine Gestalt, wie sie durch manche Träume geht: mal als das Ich, mal als ein Du, mal völlig fremd. Eine schemenhafte Gestalt, nie fassbar, nicht einmal mit dem Blick zu fixieren, weil sie immer im Gehen war, im Laufen, im Springen. Ein Mensch, dem die glühende, nur oberflächlich erkaltete Lava nicht erlaubte, stillzustehen, zu verharren, sich dem Blick darzubieten, sich zu offenbaren, ein Gesicht zu zeigen. Denn stillzustehen hieß verbrennen. Einmal nur, wenn Tante Erdmuthe die Wahrheit gesprochen hatte, einmal muss Helders Großvater einen Augenblick zu lange seinen Schritt verhalten haben, war, vielleicht von einem Zuruf aufgehalten, stehen geblieben, hatte sich dem Rufer zugewandt, ihm einen Moment lang sein Gesicht gezeigt und war verdampft.
     
    Susanne, mit der Helder, während der GENERAL rechnete, diskret per E-Mail korrespondierte, fragte an, ob er sie nicht in Brüssel besuchen wolle. Jean-Pit werde bestimmt auch ihm die Stadt einmal zeigen.
    Wer zum Teufel war Jean-Pit? Halt, nein, diese Frage schickte er nicht in den Äther: Löschen, löschen. So. Sollte sie mit dem doch in Brüssel rauf und runter … Er ließ sich nicht vorführen, er begriff auch so, wie überflüssig er war. Vielleicht sollte er dennoch hinfahren, nur, um sich diesen Jean-Pit mal vorzuknöpfen?
    Aber dann kam 007, ein Filmplakat, und Helder fiel ein, was er noch nicht bedacht

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