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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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zerrissen.
    Ja, Carla war sich beim Anblick des Säuglings gewiss, es war wieder ein Bote aus der anderen Welt angekommen. Erst später, als sie den jenseitigen, den Hauser’schen Blick auch bei anderen Neugeborenen als etwas Gewöhnliches wahrnahm, setzte sie verschämt hinter den Namen Kaspar ein Komma und dazu den schlichten, aber schönen Namen Hans.
    Auch davon, wie gesagt, wusste der
Cottbuser Anzeiger
nichts zu berichten, sondern nur von der dem Truppenbesuchfolgenden Grundsteinlegung eines Eisenbahnstellwerks durch den Monarchen.
    Das erste Centralweichenstellungsgebäude im ganzen Reich, betonte die Zeitung, welches die Weichen mittels Druckluft und Elektrizität in die gewünschte Position brachte. Eine Tatsache, die die Majestät veranlasste, ihre Begeisterung kundzutun für eine Bahnlinie, die deutschen Geist und deutsche Technik bis ins tiefste Mesopotamien tragen werde. Eine Idee, von der, so schlussfolgerte der Schreiber, mit Sicherheit auch der rasselwerfende Säugling eines Tages ergriffen werde.
    Die Zeitung sollte nicht ganz recht behalten. Denn es war nicht Erdmuthe, sondern Hans, der siebzehn Jahre später die Uniform der Anatolischen Eisenbahngesellschaft trug.
    Am Vorabend des denkwürdigen Kaiserbesuchs hatte dieses Konsortium nämlich vom türkischen Sultan eine Vorkonzession erhalten zum Bau der Strecke Konya–Bagdad–Basra. Diese bereits von Istanbul durch die anatolische Hochebene bis Konya führende Bahnlinie vereinte in der Phantasie des Cottbuser Redakteurs einen märchenhaften Orient mit europäisch-technischem Fortschritt und einer Prise deutschen Sendungsbewusstseins. Das war ein Gemisch, mit dem man Wunderlampen betreibt. Diese nun war fortan Bagdadbahn genannt.
    Also Volldampf vorwärts nach dem Euphrat und Tigris,
jubelte der Schreiber,
und nach dem Persischen Meer, damit der Landweg nach Indien wieder in
die
Hände kommt, in die er allein gehört: in die kampf- und arbeitsfreudigen deutschen Hände! Und ab dem heutigen Tage können wir sagen, auch in Cottbus werden dafür bald die Weichen gestellt.
    Hans Kaspar aber sollte – das, Helder, wissen wir bereits – bis nach Hawaii gelangen. Ein Bote, der ohne Begleitschreiben eintraf und dort ohne letzten Gruß verschwand – nichts hinterlassend als ein altes Paar Schuhe.
    Nachdem Helder sich vergeblich gemüht hatte, von Tante Erdmuthe weitere familiengeschichtliche Auskünfte zu erlangen, glaubte er, fixiert auf die hawaiischen Erbschuhe, Hans Kaspar Brüggs vergangene Zukunft im sonnigen Anatolien vernachlässigen zu können.
    Tante Erdmuthes alle Zeitenwenden überdauernde Vorliebe für hohe Herren hatte jede erhellende Bemerkung verhindert. Sie sähe, hatte sie gesagt, ihrer vermutlich letzten Begegnung mit einem deutschen Staatsoberhaupt entgegen.
    Es war tatsächlich nicht auszuschließen, dass sie allein deshalb tapfer der Hundert plus x entgegenschrumpfte.
    Vielleicht, so brummte Helder in den Telefonhörer, kommt zu dir ja doch der Bundespräsident.
    Na, aber sicher doch, krähte sie zurück. Außerdem habe sie mit der deutschen Regierung noch eine Rechnung offen. Und zieh die Schuh an, wenn du gratulieren kommst …
    Helder hatte den leisen Verdacht, dass sie ihre Senilität nur vortäuschte, um andere aus dem gewohnten Trott zu scheuchen. Seufzend legte er auf.
    Sollten sich in Tante Erdmuthes Erinnerungsarchiven tatsächlich nur noch Akten über barttragende Staatschefs finden? Steckte da nicht irgendwo noch ein Lesezeichen, ein abgerissener Zeitungsrand vielleicht, mit einer draufgekritzelten Notiz? Denn die hatte ein ausgebüxter Schwager und Lavagänger wie Hans Kaspar doch wenigstens verdient.
    Er, der Fußgänger inmitten von Eisenbahnern. Er, der sich dorthin abgesetzt hatte, wohin es keine Zugverbindung gab, nach Honolulu. Er, die undichte Stelle im Lokomotivenkessel. Wie konnte ihn eine traditionsreiche Eisenbahnerfamilie anders strafen als mit Verachtung und Vergessen. Er war der unausdenkbare Fall, für den es keine Dienstanweisung gab.
    Die Bahn, nichts war wichtiger in Helders Familie. Heute, dachte Helder, wo ein neuer Autobahnabschnitt nach dem anderen, aber keine neue Bahnstrecke eingeweihtwird, mag mancher glauben, ihre Geschichte ginge zu Ende. Mitnichten. Doch nicht etwa eines ökologischen Zeitgeistes wegen, sondern aus staatspolitischer Notwendigkeit. In Zeiten, wo sich nationale Strukturen im globalen Nichts aufzulösen beginnen, ist ein festes Korsett nötiger denn je: Die Bahn, das

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