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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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nun auch von Amts wegen und erhielt den Namen Brügg.
    Arno Brügg hatte den Knaben in sein Herz geschlossen, zumal dieser sein ausgeprägtes Interesse für Eisenbahnen teilte. Zu der Zeit konnte Brügg noch hoffen, von ihm bald Vater genannt zu werden. Doch schnappte Hans bei einem seiner zahlreichen Besuche auf dem Bahngelände die Anrede Meister auf. Dieses Wort erschien ihm so bemerkenswert, dass er es fortan gebrauchte.
    Das betrübte Brügg mehr, als es ihm schmeichelte. Doch veranlasste es ihn weder zu klagen, noch dazu, etwas anderes zu fordern. Überhaupt war Brügg in den ersten Jahren ein nachsichtiger Erzieher. Carla kommentierte das eigenartige Schwanken des Jungen zwischen Trübsinn und Tobsucht mit den Worten: Wer weiß, wer seine Eltern waren. Eine Bemerkung, über die Brügg mit einem barschen
Unsinn!
nicht zu spekulieren wünschte.
    Nach der Einschulung des Knaben hielt es Brügg allerdings für unerlässlich, dessen vor allem für Carla schwer erträglicheGefühlsausbrüche mit einem kleinen häuslichen Dienstplan in geregelte Bahnen zu lenken. Wenn wir von der Bahn nicht unsere Pflicht erfüllen, pflegte er zu sagen, dann gibt es nur noch Katastrophen.
Wir von der Bahn,
ein
Wir
, das Hans von Anfang an mit einschloss.
    Es stürzte Brügg in einen gewissen Zwiespalt, als Hans im Alter von zwölf Jahren seine Vorliebe fürs Militär entdeckte. Er verbrachte Stunden mit dem Aufbau, ja der Inszenierung von Dioramen. Ganze Zinnsoldatenheere lieferten sich Schlachten, deren Heftigkeit zu illustrieren Hans sich vom Nachbarn gelegentlich einer Schlachtung Kaninchenblut erbat. Carla war entsetzt, als sie das blutige Schlachtfeld im Kinderzimmer entdeckte. Brügg verordnete seinem Zögling Arrest und versuchte, Carla mit der Aussicht zu trösten, das Militär werde Hans die vermisste Disziplin wohl lehren können.
    Was nützt uns Disziplin?! Eines Tages, so orakelte Carla, wird es Menschenblut sein.
    Tatsächlich war das ganze Volk zu dieser Zeit verliebt ins Militär. Sein Herrscher posierte gern in wechselnden Uniformen. Mal als schwerttragender Schotte, mal als Admiral, dann wieder als Husar. Kriegerische Zeiten, da konnte es zwar gut klingen in der Nachbarschaft: mein Sohn? Der wird Soldat! Doch Brügg hatte ein anderes Bild vom Krieg, nicht Tschinellen und blitzende Pickelhauben, sondern einen rotnarbigen zuckenden Beinstumpf. Der hatte Brüggs Vater gehört, und was einmal vom Oberschenkel abwärts daran angewachsen gewesen war, lag längst vermodert auf einem Feld in Lothringen.
    Im August 1870 hatte Grenadier Friedrich Brügg aus einem Feldlazarett bei Gravelotte auf einer kolorierten Postkarte unter dem Einfluss von Morphium gereimt:
    Ein Granat des Franzmanns ist gekommen
    und hat ein Bein mir genommen.
    Es tut gar nicht weh, das Bein ohne Mann,
    wirst sehen, wie der noch tanzen kann.
    Nun schreib mir schnell, ist das Kindelein schon da?
    Es grüßt Euch inniglich Gatte und Papa!
    Das Kindelein war da. Am Achtzehnten, dem Tag der Schlacht, geboren und bald darauf im Beisein des auf Krücken heimgekehrten Vaters auf den Namen Arno getauft.
    Was den heranwachsenden Arno später immer wieder verwunderte, war, dass dem Vater dieses Bein, sobald die Wirkung des Morphins nachließ, noch immer schmerzte.
    Auf meinem Bein, stöhnte dann der Vater, da steht das neue Deutsche Reich.
    Das Reich gab ihm Morphium dafür. Immer mehr, er brauchte immer mehr. Wenn es fehlte, dann war wieder Krieg, dann wälzte er sich in seinem eigenen Dreck und schrie: Gravelotte hört niemals auf, Gravelotte wird immer sein! Manchmal prügelte er Arno mit seiner Krücke. Dann spürte auch Arno den Schmerz des fehlenden Beins.
    In einer sternlosen, windigen Nacht erwachte Arno und hörte durchs offene Fernster, wie etwas groß und schwer aufs Pflaster des Innenhofes fiel. Er ahnte, was da gefallen war. Er lag die ganze Nacht wach und traute sich nicht nachzusehen. Gegen Morgen schlief er ein. Ein Schrei weckte ihn. Später brachte ein Nachbar die Krücke herauf. Die ist ganz geblieben, sagte er.
    Vater Brüggs Krieg war endlich zu Ende.
     
    Jahrzehnte später, im August 1914, sah Brügg während seines Dienstes Waggons mit jungen Männern, die singend und lachend wieder gen Frankreich zogen, als wollten sie nur einen Ausflug machen. Einen Ausflug nach Paris, wie einer mit Kreide auf die Waggonwand geschrieben hatte. Da fasste Brügg den Entschluss, dass sein Sohn, der ihn wohl nie Vater nennen würde, ihm nicht zu etwas werden

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