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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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stählerne Rückgrat der Gesellschaft. Ein Heer verantwortungsbewusster Männer und Frauen lenkt den chaotischen Lebensstrom in nützliche Bahnen, auf nützliche Bahnen. Der 7. Dezember 2035 wird, 200 Jahre nach Nürnberg-Fürth, dessen war sich Helder sicher, keine Nachrufe, sondern Loblieder auf die Renaissance dieses Transportmittels vernehmen.
    Helder beschloss, seinen Teil dazu beizutragen, notierte den eben gedachten Satz als den ersten einer umfassenden Abhandlung und schrieb an jenem Abend auch ihren Titel aufs Papier: »Nützliche Bahnen«.
    Entschlossen, auf diese Art Ordnung in sein Leben zu bringen, störten ihn die nutzlos im Flur herumlungernden Großvaterschuhe. Er warf sie am nächsten Tag in einen Container der Kleidersammlung.
    Plötzlich war das Leben wieder wie vorher. Ruhe. Frieden. Kaffee. Schließlich rechnete der GENERAL. Man konnte ein bisschen Zeitung lesen oder mit Susanne telefonieren. Die Presse meldete, die Alliierten hätten eine Hauptstadt eingenommen. Wurde ja auch Zeit.
    In Brüssel, sagte Susanne, habe sie nette Leute kennengelernt. Ja, sicher, es seien nicht nur Frauen, aber er solle sich mal keine Sorgen machen.
    Machte er auch nicht. Zumindest gab er es nicht zu. Er war schon froh, dass sie sich hin und wieder nach seinem Befinden erkundigte. Das war doch immerhin was.
    Die Zeit floss dahin, ganz sanft und meeresstill. An den Abenden sah man ein halbwegs vergnügtes Bahnmeisterlein Zettel um Zettel beschreiben. Er nannte das bei sich: mein Werk.
    Die Träume blieben. Und manchmal ging er noch am Tag vorüber, der Lavagänger. Dann verging auch das.
     
    Bis Helder ihn an einem eisblauen Wintermorgen wieder sah, zumindest seine Schuhe. Er hatte noch vor Dienstbeginn an der großen Einkaufspassage geparkt, um sich nach einem Computer umzusehen, der ihm beim Abfassen seines Werks behilflich sein sollte. Da sah er ihn hinter dem Parkscheinautomaten sitzen. Eigentlich sah er nur seine Beine, doch diese Beine, er erkannte es sofort, trugen seines Großvaters Schuhe. Helder löste einen Parkschein, doch wagte er nicht, einen Blick hinter die Säule zu tun, um sich den Lavagänger näher anzusehen, geschweige, dass er auch nur mit dem Gedanken spielte, ihn anzusprechen. Schließlich sagte ihm sein Verstand, dass die Schuhe seines Großvaters an den Füßen eines Penners einen nützlichen Zweck erfüllten. Eine gewisse Rührung ob seiner philanthropischen Tat wehte Helder an und trug ihn in das Computergeschäft. Dort allerdings schlug seine Selbstgewissheit jäh in Zweifel um. Sicher: Das Erreichen fremder Weltgegenden war seit Beginn der neunziger Jahre auch von Cottbus aus einfacher geworden – wie auch umgekehrt –, doch dass er mit dem Überschreiten einer Ladenschwelle sich schon im Ausland befand, irritierte ihn. Der eifrige und jugendlich pomadisierte Verkäufer ergötzte sich an Vokabeln wie firewire, headset und multitasking.
    Helder war beeindruckt, er verstand kein Wort. Schließlich versetzte ihn das futuristische Verbalbombardement in Panik. So mussten sich die Saurier gefühlt haben, als über sie der tödliche Kometenhagel hereinbrach.
    Da blieb er doch lieber bei Mutters alter Erika mit dem hängenden
e
. Auch ein Akt des Widerstands gegen den GENERAL.
    Susanne hätte es Bockigkeit genannt.
    Auf dem Parkplatz umringten jetzt einige Leute den Parkscheinautomaten, ihre Atemwolken stiegen wie Rauchzeichen auf.
    Wird wohl kaputt sein, dachte Helder. Hätte auch eher kaputtgehen können, hätte ich Geld gespart. Ein Rettungswagen kam herangerast. Die Leute traten zur Seite, und Helder sah, es ging nicht um den Automaten, sondern um den Träger der Lavagängerschuhe. Ein Notarzt beugte sich über ihn, richtete sich wieder auf und zuckte mit den Schultern. Erfroren, hörte Helder beim Nähertreten, und: wohl stockbesoffen. Nachts kommt hier keiner lang.
    Sanitäter packten den Erstarrten auf eine Trage, die Leute zerstreuten sich, und Helder sah zu, wie seine Schuhe in den Wagen geschoben wurden.
    Ja, plötzlich waren es wieder
seine
Schuhe. Kein Zweifel, er hatte gedacht: halt, die Schuhe! Das sind
meine
Schuhe! Plötzlich war ihm, als sollte da mehr als ein Paar alter Treter unwiederbringlich aus seinem Leben verschwinden. Etwas, das Helder nicht hätte benennen können, eine diffuse Hoffnung auf ein noch diffuseres Anderes: eine andere Existenzmöglichkeit. So wie der Kaiser mit der Rassel. Oder: der Eisenbahner auf Wanderschaft.
    Ein Lavagänger war erfroren. Helder hatte

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