Der Lavagaenger
wirklich! Bist du tatsächlich hier?
Ja, ich bin hier.
Und hast du ihn gefunden?
Wen?
Den Krieg.
Nein, doch er hat mich gefunden.
Spätabends, nach der Begegnung mit Ahmad, als man ihn in der Siedlung schon suchte, war Hans unbemerkt nach Hause gekommen. Er hatte in seinem Zimmer einen Rucksack mit Sachen gepackt und sich davongeschlichen.
In Adana meldete er sich unter falschem Namen und unter Angabe eines Geburtsdatums, das ihn schlagartig ins einundzwanzigste Lebensjahr versetzte, in einem Rekrutierungsbüro der türkischen Armee. Der Feldwebel, der seine Daten aufnahm, sah in kalt an: Du denkst, mein Junge, wir nehmen jeden? Hast du keine Papiere?
Als Hans Kaspar verneinte, musterte ihn den Feldwebel von oben bis unten, dann lächelte er spöttisch: Ich glaube dir. Und an die Front möchtest du? Gut, der Feldwebel schlug in langen Listen nach, ich verzichte darauf, zu überprüfen, ob du diese Ehre verdienst, ob du tatsächlich ein Muslim und beschnitten bist. – Morgen früh sechs Uhr geht’s ab nach Syrien, zur Infanterie!
In Aleppo wurden ihm und einem Dutzend weiterer Rekruten das Exerzieren und das Schießen beigebracht. Ihr Ausbilder, ein kleiner knorriger Leutnant vom Rhein, war ein begeisterter Anhänger des militärischen Fortschritts und der erfolgreiche Einsatz von Chlorgas an der europäischen Front gerade in aller Munde. Jedoch, was manchen mit Besorgnis erfüllte, ließ die Entwicklung einer entsprechenden Schutzmaske auf sich warten. Der Leutnant übte daher mit seinen Untergebenen auch das Anfertigen provisorischer Gasmasken aus Trinkbecher, Helmbezug und Brotbeutelriemen sowie ein wenig Mull als Filter.
Der Rheinländer meinte es auch sonst gut mit seinen Schützlingen und führte sie in ein Café, wo eine Kapelleeuropäische Musik spielte. In den Pausen brüllte der Kellner: Engagez! Dann konnte man für eine Mark und achtzig ein Mädchen einladen.
Doch davon berichtet Hans nichts, auch nicht, ob das Mädchen mehr getan hatte, als auf seinem Schoß ein Glas Champagner zu trinken.
Am Tag nach dem Cafébesuch waren sie in einen Zug gestiegen, der sie über Damaskus hinunter in die arabische Wüste brachte. Dort aber hatten Beduinen in der Hoffnung, der Große Krieg diene ihrer eigenen Befreiung, ein wenig Sprengstoff unter den Gleisen verscharrt.
Als Hans Kaspar, von der Explosion aus dem Waggon geschleudert, zu sich kam, war ringsumher Stille. Er spürte den Geschmack von Blut, das ihm übers Gesicht rann. Jemand näherte sich.
Es erging Hans Kaspar ein wenig wie Arno Brüggs Lieblingshelden Kara ben Nemsi, der immer, wenn es brenzlig wurde, auf einen edlen Eingeborenen traf, dem geholfen werden konnte oder der seinerseits dem Helden half, ein Held zu sein oder, wie in diesem Fall, zu überleben.
So fand sich Hans Kaspar ben Nemsi am Abend mit verbundenen Wunden im Lager der Beduinen. Man hätte ihn, erzählte Hans, an Carlas Bett sitzend, wie einen Gast behandelt. Man hätte mit großer Neugier seine Ausrüstungsgegenstände inspiziert, unter denen besonders die Gasmaske Aufsehen erregte. Man war, trotz der Erklärungsversuche ihres Besitzers, überzeugt, diese seltsame Maske diene einzig dazu, Schrecken unter dem Feind zu verbreiten. So reihte Hans, wie es mancher Kriegsheimkehrer tut, Anekdote an Anekdote, trieb Scherz und Schalk, auch, um die kranke Carla zu erheitern, bis ihr zweifelnder Blick ihn stocken ließ.
Sicher, sagte Hans, frei sei er nicht gewesen, doch freundlich aufgenommen. Nein, auch nicht von allen. Manche hätten ihn mit Misstrauen beäugt. Dennoch, als eine türkischeAbteilung auf dem Weg zum Suezkanal auf die Beduinen traf, sei er nicht in der Lage gewesen, obwohl es Gelegenheit dazu gegeben hätte, sich auf die Seite der Türken zu schlagen. Vielmehr sei er still auf seinem Lager liegen geblieben und hätte, obwohl schon wieder bei Kräften, den Schwerverwundeten gemimt.
Wovon Hans nicht sprach, war der Beduine, dessen Karabiner versagte und der sich Hans Kaspars Gasmaske griff, um damit den Feind in die Flucht zu schlagen. Später sah ihn Hans Kaspar wieder, ein Säbel hatte nicht nur die Maske, sondern gleich das ganze Gesicht abgetrennt. Dieser Tote geisterte noch lange durch seine Träume und verlangte sein Gesicht zurück. Seit dem Sturz des Vaters – ja, Hans dachte seither an Carlas Mann nur mit diesem Wort –, seit dessen Tod also, war das vermisste Gesicht, mal haltlos schwebend, mal im Wasser versinkend, das Gesicht Arno Brüggs.
Hans
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