Der Lavagaenger
aus dem Brottopf fischen sehen.
Und warum? Das, schloss Tante Erdmuthe ihren Ausflug in die koloniale Familienvergangenheit, war hohe Politik. Die Deutschen bekamen von den Briten die Insel Helgoland, jene die Oberhoheit über das Land Witu – und der Sultan eines Tages im Gefängnis von wem auch immer eine Prise Gift. Die Onkel aber, die bekamen nichts.
Letzteres erschien Henri, in Anbetracht des Löwenschicksals, immerhin ein Vorteil zu sein.
Damit endete eine weitere Folge aus Tante Erdmuthes Lieblingsserie
Undank ist der Welten Lohn.
Dem Vater war der Vergleich des Familiengefährts mit dem afrikanischen Berg nicht wie für Erdmuthe ein Gedankenband zu besseren Zeiten, sondern ein dumpfer Trommelklang aus Savanne und Busch. So knallte er beleidigt die Fahrertür zu, kurbelte dann aber das Fenster herunter und brummte: Der ist extra für deine Schwester angeschafft worden, dass das mal klar ist, Erdmuthe.
Wenn du willst, versprach die Mutter versöhnlich von der Beifahrerseite her, nehmen wir dich auch mit nach Rügen.
Nie und nimmer, rief Tante Erdmuthe und hätte ohne den Zwang, ihr Rad festhalten zu müssen, wohl beide Arme zum Himmel aufgeworfen. So schlug sie sich lediglich mit einer Hand vieldeutig an die Stirn und sagte: Ich fahr nur nach Helgoland. Schließlich stünde ihr als Denhardt-Erbindieses Eiland zu. Wenn du, Henriette, sprach sie ihre Schwester an, das nicht willst, bitte. Aber solange das nicht geregelt ist, setzte ich keinen Fuß auf irgendeine andere Insel!
Na, sagte der Vater erleichtert, wir haben dort sowieso nur vier Betten.
Denk dir, rief die Mutter in das Startgeboller des Wartburgs hinein, ohne Omas Hüfte hätten wir den Ferienplatz noch lange nicht.
Tja, trumpfte der Vater zurück, die Reichsbahn macht’s möglich!
Der Wartburg tuckerte los, und die Großmutter begann zu singen:
Jetzt fahrn wir an die See, an die See.
So waren Helders also ein paar Wochen später samt Oma im Kilimandscharo an die Ostsee gefahren.
Nachdem Arkona entdeckt und der Hunger gestillt war, verbrachte man den Rest des Tages am Strand von Baabe. Die Großmutter thronte in ihrem Stuhl, und der Wind zauste ihr eine graue Strähne nach der anderen aus dem Haarknoten, während sie selig lächelnd schlief.
Die Mutter schimmerte in verschiedenen Rottönen vor sich hin, die sie am Abend eine gesunde Bräune nannte, die zu betasten dem Vater aber durch heftige Seufzer und kleine Aufschreie verwehrt wurde. So lange, bis sich die mühsam erlittene Farbe zu ihrem Kummer nach wenigen Tagen in weiße abziehbare Fetzen verwandelt hatte.
Der Vater aber warf sich wieder und wieder ins Wasser, schnaufte heftig, prustete lautstark und forderte seine Familie, einschließlich der Großmutter, auf, das herrrrliche Nass und das herrrrliche Wetter doch nicht mit nutzloser Herumliegerei zu vertun.
Als seine Stimme, was Henri längst befürchtet hatte, ihn beim Namen rief, verkroch sich der Junge noch mehr hinter seiner Lektüre und ignorierte tapfer das Werben desenthusiastischen Sportsmannes. Ja, der väterliche Drang, den Sohn ständig zu sportlicher Betätigung animieren zu wollen, stieß auf dessen hartnäckigen Widerstand. Henri war, trotz ausgelobter Eisprämien, weder für Wettläufe durch das flache Wasser noch für den Bau von Sandburgen zu gewinnen. Am meisten aber scheute er Ballspiele, insbesondere jenes, das den Einsatz der Füße erforderte, da er häufiger als die luftgefüllte Kugel seine eigenen Knöchel zu treffen pflegte. Lieber las er in den hosentaschengroßen Heftchen, von seinem Vater Schundliteratur genannt, die der eine oder andere Kiosk zwischen Keksen, Limonade und Ansichtskarten feilbot, über Abenteuer auf fernen Inseln oder noch ferneren Planeten.
Eines Tages aber blieb des Vaters Stimme aus. Plärrende Kleinkinder, juchzende Frauen, zänkische Möwen, Meeresrauschen, auch männliches Schnaufen und Prusten, aber nicht des Vaters Stimme. Das irritierte Henri, und er sah auf. Da stand der Vater mit seinen schmalen haarigen Waden im flachen Wasser, und seine dünnen, sonst glatt nach hinten gekämmten Haare tanzten mit dem Wind, während er aufs Meer hinausblickte, nein, starrte.
Obwohl Henri seinen Blick nicht sah, empfand er dieses stumme in eine Schiffs- und auch sonst ereignislose Ferne Sehen als ein Starren. Ja, der ganze Vater schien erstarrt. Mit seinem hinter dem Schalter rundgesessenen Rücken stand er da, wie von einer unsichtbaren Last an jeder weiteren Bewegung gehindert.
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