Der Lavagaenger
Am besten, er sei niemals hier gewesen. Am besten, er ginge nach Konya zu Carla.
Ja, nach Konya. Ach, Hänschen, das weißt du ja auch nicht! Sie ist im März schon dorthin, kurz nach deinem Verschwinden. Ja, sicher eine Schule oder ein Internat, was weiß ich. Sie hat ja kaum noch mit jemand gesprochen.
Mag sein, dass Magda den Jungen vor den harten Pritschen türkischer Gefängnisse bewahren wollte. Wahrscheinlich aber ist auch, dass ihr dessen Aussage über den Anlass der Auseinandersetzung sehr unangenehm gewesen wäre. Zwar war Magda eine Frau, die sich schnell der Leidenschaft hingab, doch ebenso schnell vermochte sie wieder praktisch zu denken. Nun, da der einzige Grund, ihre Verlobung zu lösen, im Wasser des Çakit verschwunden war, schien ihr der Tunnelbau doch schon recht weit gediehen und die versprochene Heirat keine so schlechte Aussicht. Warum also sollte sie die Motivation ihres Verlobten, durch den Berg zu gelangen, unnötig untergraben?
So erwähnte sie weder die Anwesenheit Hans Kaspars beim Sturz noch ihre eigene in der Brügg’schen Küche. Ein türkischer Soldat? Nein, hatte sie nirgends bemerkt. Ja, es sei einer der üblichen Kontrollgänge Brüggs gewesen.Genaueres könne sie nicht sagen. Aber Brügg habe ihr gegenüber erst kürzlich von plötzlichen Schwindelanfällen gesprochen. Es sei auch nicht richtig, dass jemand mehrmals laut
Vater
gerufen habe.
Was ihr gehört habt, sagte sie zu den umstehenden Arbeitern gewandt, war das, was ihr immer ruft, wenn etwas herunterfällt: Warda! Brügg war ein sehr gewissenhafter Mensch: Warda, rief er, aufgepasst!, damit er keinem von euch auf den Kopf fällt.
Nachdem Tage später Brüggs Leiche geborgen war, sorgte Birghöfel für ein ehrenvolles Begräbnis. Er selbst hielt die Grabrede und versäumte darin nicht, so wie Brügg selbst es getan hatte, den Bahnmeister in einem Atemzug mit dem ertrunkenen Kaiser Barbarossa zu nennen. Er sprach von
Opfermut
und
Heldentum
, reimte spontan auf
große Zeit
, dass dies sei, was
den Kaiser freut
, worauf er prompt den
Tod
folgen ließ und irgendwo zwischen
Volkes Not
und der seltsamen Wendung
Feindes droht
noch das Wörtchen
treu
unterbrachte, welches bei der angereisten Carla einen heftigen Tränenfluss auslöste. Birghöfel schloss seine Rede mit dem Vorschlag, die Todesbrücke
Warda
-Brücke zu taufen.
Beim anschließenden Leichenschmaus kam Magda nicht umhin, diese Idee zu loben,
Brügg
-Brücke klänge ja auch eher wie ein Stottern.
Helder, der sich später von den Ereignissen eine Vorstellung zu machen suchte, fand tatsächlich in den Berichten über jene Zeit den Namen Warda-Brücke. Er konnte sogar die von Magda in die Welt gesetzte Erklärung nachlesen, der Stürzende habe
Aufgepasst!
gerufen. Doch nirgends fand Helder einen Hinweis auf die tatsächlichen tragischen Ereignisse, welche, wie wir finden, den Namen Vater-Brücke gerechtfertigt hätten.
Als die auf diese Weise verwitwete Carla in Konya den Zug verließ, wurde sie von einem heftigen Fieberanfall geschüttelt.Auf ihrer dreihundert Kilometer langen Reise zur Beerdigung ihres Mannes hatte wenige Stunden vor ihrer Ankunft in Belemedik ein Mückenweibchen Gelegenheit gefunden, sich mit Carlas Blut zu nähren. Da diese Mücke zur Anopheles-Art gehörte, waren bei dieser Mahlzeit winzige Lebewesen in Carlas Blutbahn gelangt. Lebewesen, die sich dort nun munter vermehrten.
So lag Carla, zurückgekehrt nach Konya, im Bett eines französischen Krankenhauses, dem man trotz des Krieges die Weiterarbeit gestattet hatte, als sie ihren Hans wiedersah.
Anfangs wusste sie nicht, ob dieses knochig, ja mager gewordene Gesicht mit den dunklen Augen nicht auch eines der Trugbilder war, die ihr das Wechselfieber schickte. Ein Fiebertraum, mit dem Brügg noch einmal zu ihr gekommen war.
Brügg, ja, Brügg. Hat es so kommen müssen? Brügg! Du mit deinem traurigen Schnauzbart!
Verzeih mir!
Verzeih mir?, sagst du das jetzt, Brügg?
Ja, ich. Verzeih mir die magere Magda.
Ja, sie war mager. Im Äußeren nicht, gewiss nicht. Doch ihre Seele war dürr. Hörtest du sie, wenn ihr zusammen wart, nachts manchmal rascheln im Wind, ein trockenes Blatt?
Ich, sagst du, Brügg, sah darauf verblichene Schrift. Unlesbares, unlösbares Leben, wie das meine.
Nun ist es gut, Brügg. Geh, geh hinüber. Finde den Frieden, den du immer gesucht hast.
Und du, Hans, was hast du gesucht?
Den Krieg, Mutter, den Krieg!
Hans! Carla betastete sein Gesicht. Du bist es
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