Der Lavagaenger
Augenblick, da alle vier im Auto saßen, bog Tante Erdmuthe auf einem Fahrrad in die Straße ein. Sie taufte schon von weitem mit ausgestrecktem Finger und Jesus-Maria ausrufend die automobile Errungenschaft auf den Namen des afrikanischen Berges, den sie von einer handkolorierten Postkarte kannte.
Die Karte steckte zusammen mit sepiafarbenen und teilweise fleckigen Fotografien in einem dickledrigen Album,das zu durchblättern Tante Erdmuthe Henri zu besonderen Anlässen, wie beispielsweise einer Eins in Rechnen, erlaubte. Der schneebedeckte Gipfel des Berges glich tatsächlich einer umgestülpten Schüssel oder eben dem Dach des Wartburgs, und seine bewaldeten Ausläufer waren sanft gewölbt wie Motorhaube und Kofferraumklappe.
Gruß aus Deutsch-Witu
stand unter der Kilimandscharoansicht.
Die Karte hatte einst ein erdmuthischer, also auch großmütterlicher Onkel aus dem für Henris kindliche Begriffe mythischen Dunkel des neunzehnten Jahrhunderts abgeschickt. Neben Onkel Gustav hatte auch, wie ihm Tante Erdmuthe damals eifrig und mit familienkundlicher Akribie erläuterte, dessen Bruder Clemens unterschrieben. Seine Schrift war von einem würdevollen Schwung, der deutlich den Minister für innere und äußere Angelegenheiten des Sultanats Witu verriet.
Wir, so sollte Tante Erdmuthe noch zu ihrem Hundertsten ins Schwärmen geraten, hatten nicht nur eine Farm in Afrika! Wir haben fünfundzwanzig Quadratmeilen besessen!
Fünfundzwanzig Quadratmeilen im Süden des heutigen Kenia, 1885 erworben durch die Brüder Clemens und Gustav Denhardt von Sultan Achmed, genannt der Löwe, für fünfzig Gewehre, etliche Ballen Tuch, Glasperlen und einige Tausend Mariatheresientaler.
Was für ein Abenteuer!
Henri in Tantes Ohrensessel, das Album auf den nackten Knien, die Onkel tropenbehelmt und kaiserbärtig im afrikanischen Dschungel neben speerschwingenden Eingeborenen. Gemeinsam im Kampf gegen einen anderen Sultan, den bösen, der Sklaven jagte, den Sultan von Sansibar, den alten Feind des Löwen. Später mit Diamanten beschenkt im Sultanspalast, bewacht von der eben eingetroffenen kaiserlichen Schutztruppe, die so wunderbar verwegene Hüte trug.
Ach, was brauchte Henri da Karl May. Doch wie betrübt war er, später in der Schule von Zehntausenden toter Hereros zu hören, in die Wüste getrieben von deutschen Truppen in Afrika.
Südwest
-Afrika? Ach, nur gut, nicht in Wituland! Nicht dort war das geschehen und zwanzig Jahre später. Damit hatten die braven Onkel nichts zu tun.
Die, erklärte die Tante, waren Duzfreunde des Löwen von Wituland gewesen. Sogar zu ministeriellen Ehren waren sie gelangt, denn sie hatten dem Sultanat den Schutz des Deutschen Reiches verschafft. Gegen die gefürchteten Sansibarkrieger, welche ihrerseits die Gunst des britischen Empires genossen.
Ein besonderes Glanzstück Denhardt’scher Politik war die Einführung von Briefmarken. Schlichte farbige Papierchen, die, mit einem Handstempel bedruckt, stolz die Existenz einer Post des Sultanats verkündeten. Ihr Wert von damals habe sich, so versicherte die Tante, inzwischen ins Millionenfache gesteigert. Die grüne Marke zu einer Rupie hatte einst die Beförderung des Onkelgrußes vom Kilimandscharo bis nach Deutschland ermöglicht. In Henri Helders abenteuerlicher Ohrensesselzeit jedoch war sie schon vom postalischen Karton verschwunden. Die hat dein Opa damals mitgenommen, erinnerte sich Helder deutlich an der Großtante Worte. Schließlich ließe sich so eine Marke leichter über Grenzen transportieren als ein Goldbarren, haha.
Das Onkelduo war nach ein paar Jahren Glanz und Würde arm und ruhmlos in der Heimat geendet.
Und der Löwe?, fragte Henri.
Welcher Löwe?
Na, der Sultan vom Wituland?
Eingesperrt von den Engländern. Seine Familie weilte eine Zeitlang zu Besuch bei Onkel Clemens in Zeitz, wo sie offenmäulig bestaunt, beargwöhnt und bespöttelt wurden, wenn sie in Begleitung des von einem breitkrempigenAfrikanerhut bedeckten Onkels durch das Städtchen spazierten. Den Bürgermeister, der, händeringend besorgt um seinen städtischen Frieden, vorstellig wurde, soll Clemens – so ein Kerl war das, mein Junge – einfach am langen Arm aus dem Fenster der zweiten Etage in die lindenduftige Stadtluft gehalten haben. Geschlagene zehn Minuten habe er ihn eine alte Redensart immer wieder herbeten lassen: Stadtluft macht frei, jawohl Herr Denhardt, Stadtluft macht frei!
Und Onkel Gustav, den habe ich in Leipzig noch eine trockene Rinde
Weitere Kostenlose Bücher