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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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Arbeitern mit. – Damit Sie sich nicht auch noch verirren. – Dann kabelte er eine Nachricht zur Gendarmerie.
    Keiner fand von Hans eine Spur. Schließlich mutmaßte man von offizieller Seite eine Entführung durch armenische Terroristen. Nur ein Hirte, den man befragte, machte die seltsame Mitteilung, er habe in den Bergen einen Tiger gesehen, was ein jeder für ein Hirngespinst hielt.

VII
    Birghöfel liebte es, zu allen möglichen kalendarischen Fixpunkten große Feuer zu entzünden und nach heimatlich-thüringischer Sitte Würste auf einem Rost zu braten. Zu diesem Zweck stand er auch am Ostersamstag des Jahres 1915 am Küchentisch und sichtete eigenhändig die eben aus Adana eingetroffenen Fleischwaren. Beim zufälligen Blick aus dem Fenster sah er einen jungen Mann in der Uniform des türkischen Heeres durch die Siedlung gehen. Immer wieder griff der Soldat nach seiner Mütze, die auf seinem Kopf, der von einem Verband umwickelt war, nicht recht sitzen wollte. Schließlich behielt er die Kopfbedeckung in der Hand und ging zögernden Schrittes auf das Brügg’sche Haus zu.
    Birghöfel dachte sich nichts bei seiner Beobachtung, zu sehr war er mit seinen Würsten beschäftigt. Später, als Arno Brügg schon tot und die Würste in der allgemeinen Aufregung auf dem Rost verkohlt waren, gab er aber diese Beobachtung wie auch sein Sichdabeinichtsdenken dem Gendarmen zu Protokoll.
    Der Soldat stand einen Moment unentschlossen vor dem Haus der Brüggs und starrte durch eines der Fenster auf den Rücken des Hausherrn, der drinnen an der Fensterbank lehnte und intensiv beschäftigt schien. Schließlich trat der Besucher kurzentschlossen ein, öffnete die Tür zur Küche und fand dort, wie erwartet, Brügg, allerdings bei einer unerwarteten Betätigung.
    Im ersten Augenblick, als Arno seinen heimgekehrten Sohn erkannte, lächelte er freudig. Doch wurde ihm sogleich bewusst, in welcher Situation dieser ihn antraf. Eswar eine an sich angenehme, für die meisten Leute durch einen Zuschauer jedoch ins Peinliche umschlagende Situation. So auch für ihn. Umklammerten doch seine Hände gerade die Hüften einer Frau, die, nach vorn gebeugt und die Hände auf ihre Knie gestützt, dicht vor ihm stand. Ihre Breeches und seine Hosen lagen ebenso dicht beieinander, herabgerutscht auf Füße und Knöchel.
    Nun, da Brügg sich von ihr löste, bemerkte auch die Frau, dass jemand eingetreten war, und griff, wie ihr Hintermann nach seiner, auch nach ihrer Hose. Doch da war Hans schon aus dem Haus gestürmt, an Birghöfels Fenster vorbei, der ihn diesmal nicht bemerkte, in Richtung des Viadukts. Dort setzte er sich hin, zog Tabak und einen Fetzen Papier aus der Tasche, um sich eine Zigarette zu drehen.
    Wenn es doch Carla gewesen wäre! Aber die Vermesserin? Mit dieser Magda … auch noch zu Hause.
    Zu Hause? Es gab schon lang kein Zuhause mehr. Hatte es denn je eins gegeben? Er wollte den Meister nie wiedersehen. Der Krieg konnte ihn wiederhaben. Die kaum verheilte Wunde am Kopf pochte heftig. Hans zitterte. Der Tabak rutschte ihm immer wieder aus dem Papier. Wütend warf er beides in den Abgrund.
    Inzwischen war Brügg, in einigem Abstand von Magda gefolgt, herbeigeeilt. Er suchte sich zu erklären. Doch Hans wehrte jedes Wort ab, und der Wortwechsel wurde zum Streit, bis Brügg seinen Sohn schließlich beschwörend bei den Schultern packte. Hans wiederum stieß Arno so heftig zurück, dass dieser ins Taumeln geriet, stolperte und von der Brücke rutschte. Er konnte sich aber noch an einem ihrer Stahlträger festhalten und sah mehr erstaunt als ängstlich nach oben.
    Entsetzt beugte sich Hans hinab und rief, was er noch nie gerufen hatte: Vater!
    Arno hörte dies und lächelte. Hatte doch dieser Sturz geholfen, eine seiner größten Sehnsüchte zu erfüllen: Hanshatte ihn Vater genannt! Hatte ihn so genannt, ohne von seiner tatsächlichen Vaterschaft zu wissen. Was doch diesen Ruf noch bedeutsamer machte.
    So hing Brügg mehr als hundert Meter über dem Abgrund, unerreichbar für den ausgestreckten Arm seines Sohnes, und lächelte. Er lächelte noch, als ihn die Kraft seiner Hände verließ, und hat wohl gelächelt, bis er, wenige Meter vor dem Talgrund, in die Arme einer gütigen Bewusstlosigkeit fiel.
    Magda, am nächsten Tag nach Eintreffen eines Gendarmen als Zeugin vernommen, beschwor einen Unfall, verschwieg aber Hans’ Verwicklung darein. Vielmehr hatte sie Hans gleich nach Brüggs Sturz dringend geraten, sofort zu verschwinden.

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