Der Lavagaenger
so, wie die Schwestern übereinstimmend hofften, dem Tanzabend noch nicht verloren. Ja, er schien ihnen wie ein den Märchen ihrer Mädchenjahre entstiegener Prinz, ertappt beim Bemühen, Elfen oder andere Naturgeister in seinen Stricken zu fangen; vielleicht auch Hexen, denn es war ja Walpurgis.
Jener Prinz war der arbeitslose Eisenbahner Hans Kaspar Brügg, der sich eben noch das Eintritts- und – trinken muss man ja auch – Biergeld für den Tanzabend verdiente. Das erfuhren die Schwestern, noch bevor am nächsten Morgen die im Auftrag eines Bauern montierten Verscheuchungswimpel die Gänse und Schwäne der naheliegenden Teiche ein wenig irritierten. Doch dies nur so lange, bis die Vögel nach einem kurzen Rundflug über die Raps- und Gerstenfelder feststellten, dass diese buntflatternden Artgenossen ihnen noch reichlich frisch getriebene Saat zum Frühstück übriggelassen hatten.
Da lag Hans Kaspar schon oder noch schlaflos und vergegenwärtigte sich die wechselnden Tänze mit den Schwestern, rief sich ihre Worte und noch mehr ihre Blicke ins Gedächtnis, um sein Herz mit derlei Indizien der Liebe zu überführen. Denn geliebt hätte er schon gerne wieder. Ja,auch und vor allem mit seinem Herzen. Das aber zog es noch immer wie eine Saatgans zu anatolischen Liebessaaten, die längst verloren waren durch den großen Verscheuchungsapparat mit Namen Krieg. Doch vergessen konnte er Siyakuu nicht. Also doch, Siyakuu. Das ahnten wir schon. Wie hatte sie angefangen, diese
Affäre
?
Woran sich Brügg merkwürdigerweise am deutlichsten erinnerte, war das Rauschen, das Rauschen des Regens, ein Rauschen, das in Wirklichkeit kein Regenrauschen war, sondern das Fressgeräusch unzähliger Raupen in der Morgendämmerung. Seidenraupen, die, in großen Kisten mit Maulbeerblättern gefüttert, die kleine Stube im kleinen Haus des Telegrafisten ausfüllten. Seide, das brachte einen Zuverdienst. Einen Zuverdienst, der es wert war, die Stube zu räumen und sich im Garten aufzuhalten.
Erst hatte er es nicht wahrgenommen, als Siyakuu ihn in das kleine Zimmer führte, als sie auf die frischen, bereits für die nächste Fütterung am Morgen bereitliegenden Blätter sanken, als sie sich liebten.
Dann hatte er gesagt: Du, es regnet, endlich regnet es.
Nein, hatte sie geantwortet, das sind die Raupen meines Vaters.
Das aber war nicht der Anfang gewesen, sondern schon beinahe das Ende. Wenige Tage später wurde Siyakuus Vater verhaftet. Und die Angst zog ein ins Seidenraupenhaus.
Es hieß, der Vater habe spioniert für die Franzosen. Oder für die Russen? Egal, auf jeden Fall spioniert. Dass er Armenier sei, so wurde auf der Gendarmerie versichert, habe damit nichts zu tun. Oder nur wenig, nämlich insofern, als es eben meist Armenier seien, die für ihre orthodoxen Glaubensbrüder in Russland spionierten oder gar Terroranschläge verübten.
Hans Kaspars Blick fiel auf die schon gilbende Ausgabe des
Cottbuser Anzeigers
vom 16. März 1921, die, vom Tischgerutscht, seit Wochen auf dem Fußboden lag. Die fetten Lettern einer Schlagzeile zogen das Morgendämmerlicht in ihre große Schwärze:
Armenischer Terroranschlag in Berlin!
Und weiter:
Ehemaliger türkischer Innenminister ermordet. Lesen Sie weiter auf S. 3.
Talaat Pascha, der
ehemalige
türkische Innenminister. Warum hatte ihn keiner erschossen, als er noch kein ehemaliger war? Warum nicht schon 1915? Warum hatte keiner versucht, Siyakuu zu retten?
Doch, Ahmad, Ahmad hat es versucht. Nicht zu schießen, nein, das nicht. Aber aufzuhalten, den Transport aufzuhalten. Ahmad, der einen Tiger reiten konnte …
Hans Kaspar griff die Schnürschuhe mit den arabischen Zeichen und zog sie an. Manchmal konnte er nur noch gehen, gehen, gehen … Jetzt ging er aus dem Haus, vielleicht auf der Suche nach einem neuen Anfang, dem glücklichen Anfang, der noch verdunkelt war von so viel Ende. Wir müssen mit ihm noch einmal zurück.
Am Anfang war der Klang der Pferdekopfgeige gewesen, damals in Konya. Er hatte Hans Kaspar an die Begegnung mit Ahmad, dem Derwisch, in den Bergen des Taurus erinnert. So war er näher getreten.
Näher, nicht ganz nah. Nah nur wie ein Zuschauer und Zuhörer. Nicht so nah wie einer, der dazugehören will. Aber gerade das wollte er, obwohl er überzeugt war, nicht zu wollen. Seit Carlas Tod war er ein Hans-ohne-Zuhaus.
Was Carla ihm offenbart hatte in einer ihrer letzten klaren Stunden, da das Fieber ihr geschwächtes Herz noch einmal ausruhen ließ,
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