Der Lavagaenger
Einen Moment lang fürchtete Henri, der Vater würde, wie er so stand, auf immer und unwiederbringlich im Meer versinken.
Vielleicht war es dieser Anblick, der Henri trieb, etwas zu tun, was er später in seiner Erinnerung einen Fehler nennen sollte. Er sprang johlend auf, rannte wie ein Fernsehfußballer zum familieneigenen Gummiball und forderte den Vater lauthals zum Zweikampf heraus. Und siehe, der Vater erwachte zum Leben, kam aus dem Wasser und stürzte nachdem von seinem Sohn abgespielten Ball. Dieser seinerseits versuchte, das imaginäre Leder wieder zu erjagen, stolperte dabei aber, was so kommen musste, über die eigenen Füße, wobei er sich heftig den großen Zeh stauchte. Wütend trat Henri mit dem unversehrten Fuß gegen den ihm jetzt mitleidsvoll überlassenen Ball, der in hohem Bogen auf den Ostseewellen landete.
Der Vater nun, auf pädagogische Konsequenz bedacht, verlangte, den Ball zurückzuholen. Daraus entspann sich ein heftiger Streit, in dessen Verlauf sich die Großmutter mit ihrem Rollstuhl mühsam durch den Sand zum Wasser vorarbeitete, offenbar in der Absicht, das Streitobjekt eigenhändig an Land zu holen. Dies und das Geschrei der lachsfarbenen Mutter – Hilfe, sie ertrinkt! – nötigten den Vater, den Ball dann doch selbst aus dem Wasser zu fischen.
Mit mühsam unterdrückter Wut und einer Handbewegung die protestierenden Frauen zum Schweigen bringend verkündete er daraufhin, dass der Aufenthalt an der Ostsee für den Jungen beendet sei. Tatsächlich brachte er seinen Sohn am nächsten Tag zum Sassnitzer Bahnhof und setzte ihn in den Zug, mit strenger Order, sich nach Ankunft bei Tante Erdmuthe zu melden.
Henri war ihm darum nicht sonderlich böse, schließlich konnte er im Zug sein letztes Weltraumabenteuer zu Ende lesen. Außerdem ahnte er, der Vater hätte, wäre es ihm möglich gewesen, viel lieber statt seiner die beiden Frauen nach Hause geschickt.
Bis zur Rückkehr der Eltern besuchte Henri jeden Tag das Freibad und übte, um im nächsten Urlaub den Vater doch noch beeindrucken zu können, insbesondere das Tauchen. Dabei malte er sich aus, wie er minutenlang in den Tiefen der Ostsee verschwinden und das Gesicht des Vaters blasser und blasser würde.
Doch zog es der Vater fortan vor, den Familienurlaub ins Gebirge zu verlegen. Er würde, beteuerte er, die Omaja gerne mitnehmen, aber: Sollen wir sie übern Rennsteig schieben?
Jahre später, als Helder seinem Vater verkündete, sich nunmehr für den Beruf des Eisenbahners entschieden zu haben, ließ der zwar ein skeptisches Knurren hören, doch sah Helder deutlich in seinen Augenwinkeln kleine Wasser der Rührung stehen. Und Helder glaubte, darin den Strand von Baabe und all die kleinen Enttäuschungen, die er seinem Vater je bereitet hatte, gespiegelt und endlich ausgespült zu finden.
Doch was Helder mit den längsten Tauchleistungen nicht und auch nicht mit solidesten Berufsplänen auswischen konnte, war das Bild des unter der Last des Himmels im Meer versinkenden Vaters, das doch der Auslöser gewesen war für die kurze Fußballerkarriere des Knaben Henri. Noch lange beunruhigte ihn die Ahnung, einen Blick geworfen zu haben hinter die ihm bisher bekannte väterliche Welt. Die nämlich war dienstplanmäßig geordnet und sportlich diszipliniert. Dort freute man sich nicht, dort wurde Freude empfunden und ausgedrückt in knappen Sätzen, die einem militärischen
Hurra, Hurra, Hurra
nicht unähnlich waren.
Manchmal, wenn Henri der Anlass väterlicher Freude war, wanderte auch die eine oder andere markstückgroße Prämie aus des Vaters in Henris Hand und von dort unter Aufsicht des Spenders in ein blechernes Lebkuchenhäuschen. Du musst die Hexe füttern, damit sie dich nicht brät!
Einmal, ein einziges Mal, durfte Henri sein durch
den-Eltern-Freude-machen
verdientes Geld sogleich ausgeben. Das war, als ihm der spitzbärtige Landesvater persönlich zum Sieg bei der Kreismathematikolympiade gratuliert hatte. Im Bus nach Hause einen Zipfel seines blauen Halstuchs kauend, die Urkunde sorgsam auf den Knien, kramte sein Gedächtnis die Worte hervor, die die fistelige Stimme gesprochen hatte: weiter so! Du wirst die Formel des Weltfriedensfinden. Und noch einmal schulterklopfend, vom Beifall der Umstehenden und vom Kameraklicken verstärkt: weiter so, Genossen!
Die Weltfriedensformel. Das war so groß, viel zu groß für einen Zwölfjährigen. Ein Luftballon, der größer wurde und größer, bis er platzte. Peng! Die Fetzen
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