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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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packen. Wie er sich ziert, wie er sich sträubt, wie er sich selber glauben machen will, dass die ererbten Schuhe nicht mehr sind als das seltsame Zeichen eines noch seltsameren Humors seines Großvaters Hans Kaspar Brügg. Vielleicht wäre ihm das sogar gelungen, hätte ihn nicht das betonte Desinteresse des Vaters an Brügg irritiert.
    Der Vater hatte sich der Familie stets als Sachwalter einer besseren Zeit präsentiert. Einer Zeit, die noch wahre Werte gekannt habe, Tugenden wie Pflicht, Fleiß und Subordination, für die allein das Wort
Reichs bahn
Garant zu sein schien. Selbst das
Räschiem
, hatte er gelegentlich betont, kann darauf nicht verzichten! Das Flügelrad am Kragenspiegel schien Bertram Helder immun zu machen gegen die Avancen der ostdeutschen Republik. Er vertratin diesem Staat seinen eigenen. Folglich war, wenn Deutsche Demokratische Höhenflieger, hießen sie nun Ulbricht oder Jähn, ihm oder seinem Sohn die Hand schüttelten, dies ein diplomatischer Akt, die Anerkennung seiner Souveränität. Noch als die Deutsche Reichsbahn mit der Deutschen Bundesbahn fusionierte und Bertram Helder in den Ruhestand überzuwechseln genötigt wurde, bestand das Bahnreich in seinem Inneren fort. Es war freilich eines, das man in Geschichtsbüchern vergeblich suchte, man würde es nicht wiedererkennen: gerecht und brüderlich und frei im Rahmen der Vorschriften. Es war auf seine Art nicht von dieser Welt. Um so vorzüglicher war es als Rückzugsraum geeignet, von dem aus er immer wieder kleinere Angriffe gegen die deutschen Republiken, mal gegen die übriggebliebene und mal gegen die verschwundene, führte.
    In Bertram Helders imaginärem Reich war für Hans Kaspar Brügg und dessen Schuhe kein Platz. Doch leider, leider war dieser Brügg Reichsbahner gewesen wie er. Und sein Schwiegervater. Und dann die Sache mit dem Polen. Das machte die Ausbürgerung schwierig. Vor allem das Vergessen. Bertram wünschte keine Fragen mehr. Deshalb rief er an. Ja, er rief seinen Sohn an, um ihm zu sagen: Also, Henri, was ich noch sagen wollte, lass doch die Sache mit dem Opa … Nein, das sagte er nicht. Er rief an und sagte: Na, sie wird ja nun mal hundert, nicht? Die Mutter und ich dachten, vielleicht können wir … und wenn du und Susanne … wenn ihr euch beteiligen wollt, dann …
    Seltsamerweise schleichen sich oft die Dinge ins Gespräch, von denen man am wenigsten reden möchte. So war man doch unvermittelt vom Geburtstagsgeschenk für Tante Erdmuthe zum orientalischen Abenteuer des Großvaters gelangt. Bertram Helder bezog die Frage seines Sohnes nach Hans Kaspar Brügg natürlich auf die Zeit, die sein eigenes Erinnerungsvermögen umschloss, und auf einenkriegerischen Einsatz
dort unten
. Nee, der hat nicht gedient, knurrte er ins Telefon, der doch nicht!
    Henri Helder vermeinte, Schnapsdunst durch den Hörer zu riechen. Der war schon zu alt, hörte er den Vater sagen, der hat sich im Stellwerk die Nüsse gerollt.
    Aus dieser Ausdrucksweise schloss Helder, dass die Mutter außer Hörweite war. Sag mal, weißt du vielleicht, warum der Opa damals …
    Na, wegen die Weiber. Der lebte doch in Bigamie, lebte der doch. Mit Oma Henriette und mit Erdmuthe. Ganz sicher, da wette ich drauf. Aber sage bloß nischt Mutti, dass ich das erzählt habe, die ist jetzt zur Bibelstunde in der Kirche. Früher Parteilehrjahr, jetzt Bibelstunde. Sic transit gloria mundi. So vergeht der Ruhm der Welt.
    Bertram Helder musste schon einiges getrunken haben, denn die der Vulgärphase folgende Lateinphrase zeigte bei ihm einen Stand des Alkoholpegels, den er nur selten erreichte. So war es dem Herrgott, der die Mutter aus dem Haus gelockt, und dem zungelösenden Geist eines Volksgetränks zu verdanken, dass Helder an diesem Nachmittag erfuhr, dass seine Großmutter, Henriette Brügg, nicht die Mutter seiner Mutter war, sondern Großtante Erdmuthe, Erdmuthe Stickenbacher. Also war Helders Großtante nicht seine Großtante, sondern seine Großmutter, und seine Großmutter …
    Das, fand Helder, war schon ein wenig verwirrend.

IX
    Als die Schwestern Stickenbacher am Abend des 30. April 1921 den Tanzboden des Gasthauses »Zur Schwanenweide« besuchten, sahen sie – von Tanz, Likör und Männerblicken erhitzt auf der Terrasse pausierend – über die Felder, deren junge Saaten im Licht eines abnehmenden Mondes erglänzten. Dort hantierte ein seinen flinken Bewegungen nach noch junger Mann mit Stangen, Stricken und Wimpeln. Weiß behemdet war er und

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