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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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fielen herab, versanken zwischen den anderen Eindrücken des Tages, lagerten sich wie fossile Reste ab in den Schichten seiner Seele, wenngleich es dieses Wort für Kinder wie ihn nicht gab. Doch irgendwo mussten sie ja hin die Zeitungs-, Fernseh- und Schultafelbilder, die an nächtlichen Traumhorizonten Atompilze auslösten, in deren Hitze schwere Schneekugeln, zerbrechliche Weihnachtsbaumengel und Brauseflaschen zu einer schillernden Schlacke verschmolzen. Dort also, an diesem damals namenlosen Ort, verbanden sich die Fistelworte mit den geknurrten Maximen Vater Helders zu einem Lebensziel: die harmonia mundi zu verwirklichen, Kursbuch auf Kursbuch.
    Erst einmal gab es für die Urkunde und das staatsrätliche Lob – siehst du, von oben sieht immer einer zu – aus dem väterlichen Portemonnaie zehn Mark der Deutschen Notenbank. Ein Wert, der durch die außerordentliche Erlaubnis, diesmal damit nicht die Hexe füttern zu müssen, ins Unermessliche gesteigert wurde. Henri durfte sich ein Buch kaufen. Er durfte mit der Mutter nach Cottbus fahren, in die Buchhandlung gehen und sich dort ein Buch aussuchen. Henri musste nicht lange wählen. Er kaufte ein Buch, dessen Umschlag von einem Segelschiff geziert wurde und das innen viele Federzeichnungen enthielt, darunter eine, auf der die nackten Brüste einer Insulanerin mit feinen Strichen angedeutet waren: »Kapitän Cooks Fahrten um die Welt«.
    Wenige Tage später, da sich des Vaters Wunsch, Henri möge im Gärtchen tätig werden, mit seiner Abneigung gegen Romane verband, versuchte ihm Henri vergeblichzu erklären, dass es sich bei den Schriften des Kapitäns mitnichten um Romane, sondern um Tatsachenberichte handle. Auch dem von ihm mehrfach in die Debatte geworfenen Attribut
wissenschaftlich
gelang nicht, den Vater umzustimmen, vielmehr sagte er nach einem kurzen Blick in das aufgeschlagenen Kapitel, in dem von Geschlechtskrankheiten die Rede war:
Das
ist ja wohl noch nichts für dich.
    Gänzlich verschwand die Verhandlungsbereitschaft seines Vaters, als er, den pädagogischen Wert überprüfend, durch das Buch blätterte und auf die federgezeichneten Brüste stieß. Kurzerhand wurde das Buch von ihm – bis nach der Jugendweihe, sagte er – beschlagnahmt.
    Doch nach jenem vom Vater erwähnten Initiationsritus, der dem pubertierenden Knaben die Tür zu Sozialismus, Schnaps und Zigaretten öffnete, war das Segelschiff hinter dessen Sinneshorizont verschwunden. Was Brüste betraf, da begnügte er sich schon bald nicht mehr mit zarten Federstrichen.
    Erst sehr viel später einmal sollte er sich an »Cooks Fahrten um die Welt« erinnern und sich fragen, ob seinerzeit in der Cottbuser Buchhandlung das Leben mit seinem dicken Finger auf das Buch zeigte, um ihm zu sagen: Du sollst selber solche Reisen machen. Und wenn er diesen Fingerzeig als einen solchen zu deuten gewusst hätte, wäre dann das Leben anders mit ihm umgegangen? Oder er mit ihm? Kaum. Er hatte auch ein buntes Heftchen über Ritter Runkel erworben, eingetauscht gegen eine aus Tante Erdmuthes Kommode entwendete Kaisermünze. Und war er Rübenbauer geworden oder Comiczeichner? Oder war er, wie ihm die Tante nach Entdeckung des Diebstahls prophezeite, im Gefängnis gelandet? Nein, nichts von alledem. Nicht einmal ein Fernsehverbot, wie es der Vater gerne bei Regelverstößen auszusprechen liebte, hatte er durchmachen müssen. Was aber weniger an einer Begnadigungsstimmungdes Vaters als an Tante Erdmuthes Diskretion gelegen hatte.
    So hatte Henri die ein halbes Jahr später erfolgende Verbannung vom Rügener Strand auch als eine nachgeschobene Sühne für den Münzdiebstahl auf sich genommen. Und derlei erschien ihm allemal leichter, als ein Lebtag so gebeugt unterm Himmel zu stehen, wie der Vater im Ostseewasser. Was für eine Last mochte das sein? Was für ein Dunkel hinter diesem gleißenden Sonnenstrand? Was steckte da bloß hinter dieser wohlgeordneten Welt?
    Henri konnte danach nicht fragen. Nicht, dass er nicht gewollt hätte. Er konnte nicht. Es fehlte ihm nicht an Mut, es fehlte ihm an Worten. Denn für dieses
dahinter
kannte man bei den Helders keine Worte.
    Und so sollte Henri eines Tages, ähnlich wie Cook, um die Welt reisen, um im zweifachen Sinn dahinter zu sehen. Auf der Suche nach seinem Großvater und auch nach Worten. Wir, wenn wir sie finden, werden davon erzählen. Damit die Sache ein Ende findet.
    Doch noch können wir unseren Helden dabei beobachten, wie er sich scheut, seine Koffer zu

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