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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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wegen der Grenze. Als Marion dann ihren Anfall bekam, schleppte er sie ins nächste Dorf, doch es war schon zu spät. Zu spät …
    Zu spät, dachte Helder. Er hockte am Pier, sah zu, wie sich ein paar Seehunde in der Sonne aalten, und knautschte einen leer getrunkenen Kaffeebecher. Es war das erste Mal, dass er sich vorstellte,
er
wäre mit Marion durch die Rhodopen gelaufen. Mit den Großvaterschuhen, dachte er, hätten wir es geschafft.
    Und dann?
    Istanbul, Bahnhof Haidar Pascha, ein Sack- oder, vornehmer ausgedrückt, Kopfbahnhof wie in Leipzig, und nichts wie hinein in die Bagdadbahn. Vorwärts, den Landweg nach Indien …
    Spinner, dachte Helder, um ein Stückchen abzurücken von sich selbst, von seiner Ahnung: Es wäre vielleicht doch möglich gewesen, ein anderes Leben.
    Und noch einmal: Spinner. Gott sei Dank, dachte Helder, ist mir das nicht passiert. Knast. Kein Studium, keine Bahn. Viel zu sensibel dieser Bereich für staatsfeindliche Elemente.
    Nun also San Francisco. Ja, die Golden Gate Bridge war schon ein beachtliches Bauwerk. Aber Hochgefühle? Helder? Nein. Mehr so Angst. Was wollten die alle? Verdammt, hatte er etwa Marion in den Bergen liegen lassen? Glotzt nicht so. Bloß nicht auffallen. Überall Bettler und Schnorrer. Bloß nicht wie ein Tourist aussehen, hatte ihm jemand geraten.
    Helder trug ein Paar alte Jeans, ein zerknittertes Hemd, Basecap und Großvaters alte Treter. Sieht aus, hatte er vorm Badspiegel seines Hotelzimmers gedacht, als käme ich direkt aus einer Holzfällerhütte in den Bergen.
    Nun fühlte er sich trotzdem beobachtet. Misstraute ihm etwa das FBI, oder hatten es Ganoven auf ihn abgesehen?
    Und jetzt das: Hey, Mann, verdammt, die Schuhe …
    Ein Chinese mit dünnem Kinnbart beugte sich vor, die Hände auf die Knie gestützt, und betrachtete staunend Helders Schuhe.
    Helder staunte unsicher zurück und blickte in ein altes faltiges Gesicht, sehr alt und sehr faltig, wie eine alte Kartoffel. Hatte er dieses Gesicht nicht schon am Flughafen gesehen?
    Jetzt hatte der Chinese nicht nur deutsch zu Helder gesprochen, sondern er hockte sich hin und besah dessen Schuhe.
    Verzeihung, sagte er, aber ich hatte diese Schuhe oder zumindest Schuhe, die genauso gearbeitet waren, ein paar Wochen lang direkt vor meiner Nase. Wir lagen immer Kopf an Fuß, um Platz zu sparen. Außerdem, wenn einer seekrank wird, dann kotzt er dem andern wenigstens nicht ins Gesicht. Also die Schuhe, ein bisschen besser waren sie,glaube ich, damals noch erhalten, aber diese Zeichen am Knöchel …
     
    Der Wind ließ die Bambusstäbchen des Vorhangs leise rascheln. Ein kleines Dampffähnchen wehte über den Teeschalen, die Mo gefüllt hatte, bevor er, auf der Suche nach der Vergangenheit, in den Tiefen seines Ladens verschwunden war.
    Mo besaß eines dieser Antiquitätengeschäfte, die es an jeder Ecke gab, um die Touristen mit ihrem Plunder zu beglücken. Anfangs glaubte Henri Helder noch, Mo wolle ihm die Schuhe abluchsen, um sie als originellen Blickfang ins Schaufenster zu stellen.
    Hans, haha, ich sehe es an deinen Augen, solche dunklen Augen hatte Hans. Hans Kaspar Brügg. O ich weiß, ich weiß, du bist sein Sohn, nein, nein, sein Enkelsohn, stimmt das? Das stimmt doch? Ich irre mich nicht, nein, der alte Mo irrt sich nicht.
    Als Helder nickte, saß er schon in einem der hinteren Räume des Ladens, und durch das offene Fenster lärmte die Stadt. Er träumte, mit Sicherheit träumte er das. Wie konnte es sein, dass ihn mitten in einer fremden Stadt ein alter Chinese in perfektem Deutsch als Nachkomme Hans Kaspar Brüggs identifizierte. Und während Helder noch schamhaft sein Unwissen über diesen Brügg zu verbergen bemüht gewesen war, hatte Mo beinahe zärtlich grüne Teeblätter über einem Kännchen zerpflückt, sie in kurzen Intervallen mit heißem Wasser übergossen und versprochen, von einer Schiffsreise im Jahr 1940 zu erzählen.
    Nun kramte er, was wörtlich zu nehmen war, seine Erinnerungen hervor, und aus den Tiefen des Ladens klang nur ab und an ein leises Fluchen. Helder nippte an dem herb-grasigen Tee, und sein Blick schweifte über das von Mo angehäufte Sammelsurium. Ein paar Messinggefäße glänzten matt in den Strahlen der sinkenden Sonne. Einholzgeschnitzter Elefant blickte stumm mit einem aufgemalten Auge herüber, die Farbe des anderen war abgeblättert. Zwischen Drachenvasen und Lampions stand in einem Regal eine faustgroße Büste von Karl Marx, die, so vermutete Helder, auf

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