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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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Lokomotive auswendig. Los, komm schon, gib mir den badischen Bahnsteigschaffner. Und da noch die Borsig 758 obendrauf.
    Ja, sagte Helder, so ein Spiel hatten wir auch.
    So, so, sagte Mo und lächelte geheimnisvoll.
    Ein Spieler also. Oder gar, wie die Großmutter meinte, ein Betrüger?
    Dann sah Helder, angeregt durch Mos Bericht, diesen Hans Kaspar Brügg schweigsam in sich verkrochen. Hörte, wie er, das Gerücht – in Empfang genommen von den Essenholern, geflüstert von Tisch zu Tisch, weitergegeben zum nächsten darüber- oder darunterliegenden Deck, bis es von einem der Posten zur höhnisch quittierten Gewissheit wurde: Die
Dunera
fährt nach Australien. Dann sah er, wie Hans Kaspar es gesehen haben muss, wie der Teehändler beim morgendlichen Dauerlauf vor ihm aus der Reihe scherte und sich über die Reling stürzte. Hörte ihn im Fallen noch rufen: Adieu, Amerika!
    Sah später den jungen Mo mit mandeläugigem Blick einen Brotkanten kauen und hörte ihn dazwischen den Großvater fragen: Was hat dich aus Deutschland getrieben?
    Unbefriedigend auch für Helder die Antwort in einen dampfenden Teebecher gemurmelt: Ich wollte eigentlich eine Fahrt mit der Bagdadbahn machen.
    Und Helder hörte Mos
Warum
untergehen im Kommandogebrüll der Offiziere, die antreten ließen zum Appell.
    In der Dämmerung unter Deck sah Helder sie hocken, hörte, wie das Bärtchen – so, sagte Mo, hätten sie den strenggläubigen Nationalsozialisten genannt – über Volksgemeinschaft referierte, und hörte zugleich in einer Ecke des Unterdecks eine Gruppe fromm-bärtiger Juden Gebete murmeln.
    Irritiert war Henri Helder, bemüht, seinen Bildervorrat aus Film und Fernsehen in guter Sortierung zu halten, alsMo die Rede des britischen Kapitäns zitierte, in welcher der die Disziplin und Ordnung jener lobte, die er bar jeglicher Ironie mit Volksgenossen ansprach. Ja, einer der englischen Offiziere hätte sogar einem Rabbiner gedroht, nur weil der sich über das Essen beschwerte, dass er ihn noch persönlich an seinem Barte ins Meer schleudern werde. So sei es kein Wunder gewesen, dass nach einer Woche auf See schon das Bärtchen zu einer Art Blockwart, Decksführer genannt, avanciert war, der betont gönnerhaft den Juden zuerst Suppe austeilen hieß.
    Undurchsichtig für Helder des Großvaters Verhalten: Als der sich durch die murrenden Reihen drängte und dem vom Bärtchen beaufsichtigten Essenverteiler schweigend die Kelle aus der Hand nahm. Als er damit kräftig die Suppe umrührte, damit das Dicke, wenn überhaupt von etwas Dickem die Rede sein konnte, nicht länger so lange im unteren Drittel des Kessels ruhte, bis die Juden an ihm vorbeidefiliert waren.
    Während das Bärtchen noch, mittlerweile zu Worten gelangt, Konsequenzen androhte, soll Hans Kaspar jenseits aller Selbstlosigkeit als Nächstes sich selber und seinem jungen Freund Mo den Teller befüllt haben.
    Manchmal, berichtete Mo, erzählte er mir von einer neuen Breitspurbahn, die Waggons so groß wie Häuser ziehen könne. Da, so schwärmte Hans Kaspar, rollt mit so einem Zug eine ganze Stadt. Ich, sagte Mo, war mit grünem Tee und deutscher Philosophie aufgewachsen, da verbreiteten solch technische Zukunftsvisionen so etwas wie Zuversicht. Wenn ganze Städte auf Gleisen fuhren, warum sollten dann nicht auch Menschen nebeneinander leben können, ohne einander das Haus anzuzünden. Hans Kaspars Eisenbahngeschichten hatten etwas von den Märchen der Kindheit, vertraut und sehr beruhigend, zumal wenn man übers Meer in die Fremde fuhr. Sie wiedererweckten den Glauben an Wunder.
    Seiner eigenen jugendlichen Tunnelvisionen eingedenk hatte Helder erstmals etwas an seinem Großvater entdeckt, das ihm bekannt, ja sogar verwandt war. Er sah, während Mo nach einem Foto der
Dunera
kramte, wie beide sich niederlegten, Kopf an Fuß, sah Mos Blick auf des Großvaters Schuhe gerichtet, auf das derbe, ockerfarbene Leder, die starken, dunkelbraunen Nähte und den Kreis arabischer Schriftzeichen im Leder, das die Knöchel schützte. Diese Schuhe hatten sich Mo so eingeprägt, dass er sie nach sechzig Jahren noch wiedererkannte und Helder, dessen Füße jetzt darin steckten, Auskunft geben konnte über seinen unbekannten Großvater. Es war ihm, als hielte er den ersten Fetzen eines an ihn gerichteten Briefs in den Händen.

XII
    Ein Zug fährt durch offene Landschaft, weg von den Städten der Küste ins trockene Innere Australiens. Es ist September, und die kräftige Frühlingssonne brennt

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