Der Lavagaenger
Sie mir lieber, warum habe ich noch keine Antwort auf meinen Brief?
Der Kanzler lächelte und verstand nicht.
Wegen Helgoland, erklärte Tante Erdmuthe, wegen meinem Helgoland!
Der Kanzler lächelte und wünschte einen schönen Urlaub an der Nordsee.
Die Insel steht mir zu, bekräftigte Tante Erdmuthe, das ist meine Insel.
Der Kanzler lächelte und versprach, die Sache zu prüfen. Zum Abschied machte er einen kleinen Diener und eilte zum nächsten Wahlkampftermin.
Helgoland … Hawaii – ist die jetzt völlig durchgeknallt, knurrte Bertram Helder. Was macht die auf ihre alten Tage noch für ein Gewese!?
Gewese? Erdmuthe rubbelte sich spuckend und fauchend mit einem Taschentuch die Schminke von den Lippen. Hab’s wohl gehört, dein Gewese. Wenn ihr auch dumm sterbt, ich werd es nicht, und der Junge wird es auch nicht! – So, der Empfang ist vorüber! Lasst mich in Ruhe mit eurem Gewese. Und du, Junge, dich will ich ohne die Schuhe nicht mehr hier sehen!
Was, fragte sich Helder, zu Hause angekommen, hat sie bloß mit den Schuhen. Er besorgte anderntags eine DoseAntipilzmittel, tränkte damit die Treter und zog sie, nachdem er sie drei Tage hatte auslüften lassen, entschlossen an. Er wollte herausfinden, was es mit diesen Schuhen auf sich hatte. Drei Mal hatte er sie loswerden wollen. Vergeblich. Drei Mal – nicht, dass er an Märchen glaubte. Doch irgendwas musste es damit auf sich haben, wenn Tante Erdmuthe wegen der Schuhe ständig drängte.
Und dann ging es ihm so wie diesem Zwerg im Hauff ’ schen Märchen, der in ein Paar Zauberpantoffeln schlüpft und plötzlich – er weiß gar nicht, wie ihm geschieht – zweihundert Meilen weiter vor dem Tor eines Palastes steht. Das feurige Kribbeln kroch durch Helders Körper, breitete sich aus und schien sich aufzulösen, nein, diese Empfindung verwandelte sich in ein Gefühl finsterer Entschlossenheit. Als er sich im Flurspiegel sah, erschrak er, blickte er doch aus dem kühlen Glas wie ein amerikanischer Präsident bei der Verkündung eines Krieges.
Helder marschierte ziellos durch die Stadt, er musste es einfach tun, er musste laufen, durch das Labyrinth der Plattenbauten, an den Gleisanlagen entlang, durch Baumärkte und Passagen, kaum drei Minuten hielt es ihn in einem Straßencafé, da musste er über Friedhöfe wandern, zwischen klingelnden Radfahrern hindurch und einmal sogar über eine Kreuzung bei rot. Endlich ein Palast. Es war ein schrilles Dudelhaus aus Glas, Beton und bunten Fähnchen: weit geöffnete Schatzkammern, erfüllte Wünsche, ausgepreist und fein drapiert die einen, die anderen abgegriffen und verzottelt auf dem Wühltisch. Diskrete Wächter hefteten ihre Blicke an den die Wunderwelt durchhastenden Helder. Nun ja, Märchen sehen tatsächlich anders aus. Also weiter. Er stapfte über Wiesen und durch Parks, manchmal nur knapp vorbei an einem der ungezählten Hundehaufen, eilte durch kahle Gewerbegebiete, überquerte mehrmals die Spree, drängte sich durch Pulks ein- und aussteigender Straßenbahnfahrgäste, erntete die Flüchetütenbepackter Einkäufer und verfiel immer wieder in Laufschritt.
Vielleicht, so begann Helder zu fürchten, hatten die Schuhe auch den Penner durch die Stadt gehetzt, bis er vor Erschöpfung eingeschlafen und erfroren war. Endlich fand er sich völlig zerschlagen vor der eigenen Haustür wieder.
Natürlich hätte er die Schuhe wieder aus- und nie mehr anziehen können. Doch er erwachte am anderen Morgen mit dem seltsam kindlichen Gefühl, das Eintrittsbillett ins Leben läge für ihn bereit. Er müsste nur die Kraft der Schuhe mit einem Ziel verbinden. Ein Ziel, ja, aber welches?
Es dauerte eine Weile, bis ihm bewusst wurde, dass er sich an diesem Tag lediglich seine Papiere aus dem Personalbüro zu holen hatte.
Man hatte ihm eine ziemlich annehmbare Abfindung geboten, und er, da noch mit der Absicht, nach Brüssel zu Susanne zu gehen, hatte angenommen. Er zog seine Lavagängerschuhe an, und siehe, schon wusste er, was er mit der Abfindung anfangen würde. Er rief Tante Erdmuthe an:
Nächste Woche fahr ich nach Hawaii.
Gut so, Junge, aber zieh dir warme Unterhosen an.
Warme Unterhosen für Hawaii? Tantchen, ich werde Shorts und bunte Hemden tragen.
Egal, Junge, Hauptsache, du machst nu endlich los! Wenn du zurückkommst, haben wir Helgoland. Ich schreibe nämlich an das höchste Gericht, wegen der Gerechtigkeit. Und noch etwas: Wenn da noch irgendwas von Hans zu finden ist – er wird ja mehr besessen
Weitere Kostenlose Bücher