Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
Vom Netzwerk:
welchen Wegen auch immer vom Schreibtisch eines ostdeutschen Funktionsträgers bis hierher gelangt war. In den Regalen Bücher, deren Einbände die Spuren vieler Hände oder eines langen Vorsichhingilbens trugen. Auf einer dreibeinigen Kommode stand ein siebenarmiger Leuchter, von der Zeit mild patiniert. An einer Wand lehnten einige Bilder, von deren vergoldeten Rahmen hie und da der Gips bröckelte, ganz vorn eine Sturmnacht auf See, die Ölschicht von Rissen durchzogen.
    Mos Laden schien ein Asyl für Vergangenheiten, die irgendwann irgendjemand etwas bedeutet hatten und dann von ihren letzten Besitzern verkauft, verloren oder irgendwo vergessen worden waren. Hofften sie darauf, dass ihre Zeit eines Tages noch einmal käme? Vielleicht diese kleine marmorne Tänzerin, die in ihrer Pirouette auf einem Sockel verharrte, der augenscheinlich ein Tintenglas enthielt. Jetzt war das Glas leer, nur ein eingetrockneter Rest erinnerte an die Tinte, mit der einmal vielleicht die Frage geschrieben worden war: Sehen wir uns morgen Abend? Oder blieb der Tänzerin, wie es dem Schreiber vielleicht auch geschehen war, allein die Erinnerung an ihre große Zeit?
    Helder spürte eine Melange aus Sehnsucht und Melancholie, wie sie alte Dinge seit seiner Kindheit in ihm auslösten, mitunter so heftig, dass er sich in späteren Jahren geweigert hatte, auch nur ein altes Möbelstück in seine Wohnung zu stellen. Diese Gewohnheit hatte, nachdem er mit Susanne zusammengezogen war, des Öfteren zu Streit geführt, denn Susanne liebte alles, was er am Ende nur noch alten Plunder nannte.
    Umgekehrt liebte Helder alles, was ihn an eine Zeit erinnerte, die er seine beste nannte, die Zeit der Wählscheibentelefone und Plasteeierbecher; wir hörten schon davon.
    Draußen rauschte, hupte und quietschte das moderne Leben, doch Helder fühlte sich von den alten Dingen in Mos Laden eingesponnen in eine Stille, die ihm unheimlich zu werden begann. Was würde ihm der Alte für eine Geschichte erzählen?
    Er dachte an
Casablanca
und solche Sachen. An Geschichten über Nazis, Geschichten über Flüchtlinge, Geschichten über den Krieg. Sah Bilder aus Russenfilmen, Amischinken, DEFA-Streifen und Fernsehfolgen, aus
Vier Panzersoldaten und ein Hund
, aus
Nackt unter Wölfen, Schindlers Liste, Pearl Harbor,
aus Dokumentarfilmen über Buchenwald, Auschwitz, Treblinka. Leichenberge, Häftlinge, Stacheldraht, Stalinorgeln, die Fahne auf dem Reichstag. Die Fakten wurden mit künstlichen Bildern überlagert, bis diese selbst wieder zum Fakt geworden waren und Vorstellungen hinterließen. Vorstellungen, die auch er gelegentlich Wissen nannte, Wissen und Wahrheit. Doch ihm war klar, nur über Eisenbahnen wusste er wirklich etwas.
    Mo hatte endlich gefunden, was er suchte, er legte ein in brüchiges Leder gebundenes Album auf den Tisch und stellte einen Karton, gefüllt mit Fotos und Ansichtskarten, daneben. Als Erstes eine Ansichtskarte: ein gutbürgerliches Haus, im Erdgeschoss ein Geschäft mit großen, in dunkles Holz gefassten Schaufenstern. Über einer Tasse, deren Dampf sich in ein chinesisches Schriftzeichen verwandelte, wölbte sich in deutschen Buchstaben das Wort Teehaus.
    Moment, Moment, Mo durchblätterte das Album, da ist er. Mein Vater.
    Helder sah einen gelehrt wirkenden Herrn mit Weste und Uhrkette in Sepia. Davor auf einem Stuhl, die Hand des Herrn lag beschützend oder begütigend auf ihrer Schulter,saß eine Frau in hochgeschlossenem dunklem Rüschenkleid mit Medaillon, die Gesichtszüge asiatisch, die Haare mit deutscher Strenge geknotet.
    Sie haben, Mo kicherte, eine Teemischung nach mir benannt: Karl Mo. Außer Tee ließ mein Vater auf der Welt nur noch die deutschen Philosophen gelten. Schopenhauer, Hegel, Nietzsche und Marx – davon der Karl. Den Mo durfte sich Mutter aussuchen. Mir hat sie später einmal erzählt, mit Mo habe sie heimlich einen chinesischen Denker in Vaters deutsches Philosophenuniversum geschmuggelt.
    Mo Zi sagt, die Werke der Menschen, wenn sie auch alles bedenken, sie müssen misslingen, wenn ihnen eines fehlt: die Liebe.
    Vater war eher der Auffassung, den Deutschen fehle, neben der Achtung für ihre Denker, der grüne Tee. Sie trinken Kaffee, so führte er gelegentlich aus, und der Kaffee, genauer gesagt, seine Inhaltsstoffe veranlassen den Körper, das Wasser ungenutzt – wutsch, du kennst das – abfließen zu lassen, ohne dass es erst die Giftstoffe aus den Zellen spült. Und was können vergiftete Menschen anderes

Weitere Kostenlose Bücher