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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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Gretchenfrage.
Zurück oder vorwärts, du musst dich entscheiden. – Wer nicht mit uns ist, ist … – Gott mit uns?
Oder Marx? Die Worte auf den Koppelschlössern ändern sich, die Bäuche drunter nicht.
    Mit weihnachtsmännlichem Rauschebart geschmückt, hatte der ehemalige Staatsphilosoph einer noch ehemaligerenDeutschen Demokratischen Republik für jeden was im Sack: für Diktatoren die Diktatur, für Träumer das Paradies, für Redner Zitate, für Büsten ein Modellgesicht und für sächsische Städte Namen, zumindest für eine, zeitweise. Als Helder jung war, trug dieser Marx das, was man eine modische Langhaarfrisur nannte. Doch vielleicht hatten die staatlichen Gestalter im Auftrag der staatlichen Verwalter nur eine fotografische Echthaarverlängerung ausgeführt, um eine in der Regel mehr von langhaarigen Musikern beeindruckte Jugend bei der sozialistischen Stange zu halten?
    Der gefälschte Marx, dachte Helder, warum war da nur keiner drauf gekommen. Alles Retusche. Ein Foto bewies nichts. Von Stalins Seite verschwand Trotzki, von der Hitlers ein Röhm, aus dem Familienalbum der Helders Hans Kaspar Brügg.
    Oder hatte ihn umgekehrt irgendjemand in den farblosen Bildband über Helders Lebens einmontiert, ein mythischer Wanderer, der exotische Weltgegenden bereiste? Wurde aus dem unbekannten Großvater lediglich ein ausgedachter Großvater? Schließlich fügte Helder den Bildern, die sich seine Familie und Mo von Hans Kaspar gemacht hatten, nur ein weiteres hinzu, eines, das sich aufs Hörensagen gründete. Und wir erzählen es nun weiter.
    Der Tee glänzte weise in der Schale, und Mo lächelte versonnen seinen Erinnerungen nach.
    Zwischen Helders Zähnen zerschnurpste leise ein Stück Zucker. Die Süße schwebte einen Moment zwischen Zunge und Gaumen, bevor er sie mit einem kräftigen Schluck hinunterspülte.
    Erzählen wir also weiter von Hans Kaspar Brügg, verschaffen wir uns den einzig wahren Besitz, den schwarz auf weiß …
    Oder weiß auf erdigem Rot …
     
    Ein Schwarm weißer Kakadus überquerte kreischend die rotsandige Lagerstraße, als in Baracke 9 hinter vorgehängten Decken die Möglichkeit erörtert wurde, im Lager einen glücklichen Gesellschaftszustand herbeizuführen. So wie es war, sollte es nicht bleiben.
    Dass jeder Lagerinsasse sich nur bei Lust und nicht bei schlechter Laune an den allgemeinen Arbeiten beteiligte, mochte noch angehen. Schließlich gab es genug, die lieber irgendetwas taten, als sich von Beschäftigungslosigkeit und Fliegenschwärmen in den Wahnsinn treiben zu lassen. Sogar das Reinigen der Latrinen brachte den Vorteil, mit einem Lastwagen und der anrüchigen Fracht einen kurzen Ausflug in die Freiheit außerhalb des Lagers machen zu können.
    Dass die Köche mal ein Pfund Butter und mal ein Schäufelchen Mehl beiseiteschafften und eines Tages ein Café eröffneten, war auch nur deshalb ein Problem, weil sie sich ihre Sachertorte und ihren Rosinenwein gut bezahlen ließen. Denn es war im Lager, wie es draußen war: Es gab die Reichen, und es gab die Armen. Die einen holten sich regelmäßig auf der Kommandantur ihr aus der Heimat postalisch angewiesenes Geld ab, die anderen versuchten, eine von der
Dunera
-Besatzung übersehene Armbanduhr oder einen Ledergürtel zu verhökern, den sie dann durch einen Bindfaden ersetzten. Die einen rauchten Zigarren, die anderen lasen die Stumpen auf. Und das war bei diesen anderen, den meisten also, eine Quelle allgemeinen Missmuts.
    Ein bayerischer Bürstenfabrikant mit Bürstenhaarfrisur sagte eines Tages zu Mo: Früahra hab i a Nega ghabt. Aba a Kines dats a. Bua, mogst da net a Göid verdeana?!
    Mo aber lehnte ab, lieber probte er in der kleinen sich bildenden Theatertruppe Brechts
Dreigroschenoper
. Den massigen Bayern sah man später häufig mit einem kleinwüchsigen Leibdiener umherflanieren. Während der einefür jedermann gute Ratschläge parat hatte, musste der andere ihm mit einem aus Pappe gefertigten Schirm Schatten verschaffen, was bei dem Größenverhältnis der beiden keine leichte Aufgabe war.
    Die Theaterleute beschlossen, nur von den Geldbesitzern Eintritt zu verlangen. Da wurden die über Nacht arm oder riefen: Was für eine Ungerechtigkeit. Nur der allzeit beschirmte Bürstenfabrikant gab sich generös und bezahlte sein Billett. Er applaudierte sogar dem Satz:
Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank …
    Ein ehemaliger Bankangestellter allerdings fühlte sich persönlich angegriffen und

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