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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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einen Freund. Damals in Anatolien. Und dieser Freund besaß einen Tiger.
    Einen Tiger? Einen richtigen Tiger? Willi konnte es nicht fassen, plötzlich verwandelte sich sein Vater, der für das Leben im Haus am Bahndamm eigenhändig ein schriftliches Regelwerk erstellt hatte, in einen Helden. Wer Freunde mit Tigern kannte, der war schon fast ein Kara Ben Nemsi.
    Ja, sagte Hans Kaspar, mein Freund war bettelarm, aber er konnte wunderschöne Musik machen auf seiner Geige. Vielleicht weil dort, wo man die Saiten spannt, ein Pferdekopf geschnitzt war. Wenn er spielte, dann fühlte man sich frei wie auf einem wilden Ritt durch die Steppe. Er war ein Derwisch, und die Leute sagten, wenn er mit seinem Tiger durch die Dörfer wanderte: Das ist ein heiliger Mann. Der Tiger war zahm und gehorchte ihm aufs Wort, nur ihm. Das aber war sein Tod.
    Eines Tages setzte sich Ahmad, so hieß der Mann, mit seinem Tiger vor einen Zug. Er wollte den Zug nicht abfahren lassen. Soldaten hatten Menschen aus ihren Häusern getrieben, nur weil sie Armenier waren. Die saßen da jetzt in diesem Zug, in Waggons, mit denen man sonst Hammel transportierte. Und unter ihnen jemand, den wir beide, der Derwisch und ich, sehr mochten. Deshalb saß da der Derwisch mit seinem Tiger und sang. Ja, er sang die ganze Zeit seine heiligen Lieder. Die Soldaten trauten sich nicht an ihn ran, wegen des Tigers. Sie warfen sogar Fleischbrocken neben die Gleise. Sie hofften, wenn sich der Tiger über das Fleisch hermachen würde, dass sie dann den Derwisch würden packen können. Doch der Tiger blieb ruhig liegen und gähnte nur gelangweilt.
    Das ging eine ganze Zeit, die Lokomotive pfiff, die Soldaten schrien und fuchtelten mit Stöcken. Doch der Derwisch sang weiter, und sein Tiger schlief. Da verlor einer der Offiziere die Geduld, er zog seinen Revolver, trat auf drei Schritt an den Tiger heran und schoss. Das Tier war sofort tot. Die Soldaten packten den Derwisch, und der Zug fuhr los.
    Ja, so war das.
    Und dein Freund?
    Sie haben ihn gründlich verprügelt und zwei Tage ins Gefängnis gesteckt. Als sie ihn entließen, drückten sie ihm ein blutiges Päckchen in die Hand. Sie hatten dem Tiger, bevor sie ihn vergruben, seine vier Pfoten abgeschnitten.
    Als ich den Derwisch wiedersah, war seine linke Seite gelähmt. Er würde nie mehr die Pferdekopfgeige spielen können. Aber singen konnte er noch. Und er hat gesungen, und während er sang, hat ein Schuster aus dem Leder der Tigertatzen diese Schuhe genäht. Er schenkte sie mir, wenige Tage vor seinem Tod.
    Hans Kaspar nahm einen Schuh, griff die Hand seines Sohnes und schob dessen Finger über die arabischen Zei chen:
     
    Wenn du dir eine Perle wünschest,
    such sie nicht in einer Wasserlache.
    Wer Perlen finden will,
    muss bis zum Grund des Meeres tauchen.
     
    Sie schwiegen. Nach einer Weile fragte Willi: Willst du weg?
    Hans Kaspar hob die Schultern und sagte mit einem Ton, der klang, als drohe ihn diese Frage entzweizureißen: Ich weiß es nicht.
    Willi lehnte sich zurück, schob eine Hand in die Hosentasche und zog einen in klebriges Papier gewickelten Bonbon hervor. Ist Eukalyptus, sagte er und hielt ihn seinem Vater auf der flachen Hand hin.

XIII
    Bereute Hans Kaspar, während die Känguruherde in großem Bogen dem Wettlauf mit dem Zug entfloh, dass er nun
weg
war, weg von zu Hause? Mag sein, Hans Kaspar hätte ohne die postalischen Grüße aus einem anderen Leben das seine unbeeindruckt von dem, was über die Krahnsdorfer Weichen fuhr, weitergeführt. Er hätte wohl selbst nicht sagen können, ob er dann den Polen, der den Zugverkehr hatte sabotieren wollen, in seinem Schuppen versteckt hätte. Aber er hatte es getan. Und war am Ende selbst geflohen.
    So zumindest, sagte Mo, deutete ich Hans Kaspars spärliche Auskünfte über die Gründe seiner Flucht. Keiner ist gerne weg von zu Hause, wenn es ein Zuhause ist. Das hier, sagte Mo und erhob sich, ist der einzige Gegenstand, den mein Vater, als auch er mit meiner Mutter Deutschland verlassen musste, mitnahm. Mo hob die faustgroße Marx-Büste aus dem Regal und wog sie einen Moment nachdenklich in der Hand, bevor er sie wieder zurückstellte. Er hätte auch den Kopf Schopenhauers mitgeschleppt, doch dessen Büste sei zu schwer für die Reise gewesen. Für ihn war Marx nur einer unter vielen deutschen Geistern. Ich aber konnte damals nur den gelten lassen, der aufrief, die Welt zu verändern.
    Oh, dachte Helder und nippte an seinem Tee, fehlt nur noch die

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