Der Lavagaenger
nächsten Morgen spannte Hans Kaspar Mrs. Hayfields Pferd vor den Kübelwagen und schleppte den toten Major mit ihrer Hilfe aus dem Haus. Sie schoben ihn auf ein Bündel Stroh, das Mrs. Hayfield sorgfältig im hinteren Teil des Wagens ausgebreitet hatte.
Als wagten sie in Gegenwart des Toten nicht, sich anders zu berühren, gaben sie sich zum Abschied lediglich die Hand. Diese Geste wirkte ein wenig steif und ein wenig verlegen, denn sie wussten beide, dass es doch eigentlich hätte mehr sein sollen.
Nur mehr Abschied? Oder auch mehr Zusammensein? Das wussten sie nicht.
Einen Moment lang erwog Hans Kaspar dazubleiben. Er sah sich mit weit ausgreifenden Schritten übers Feld gehen, sah Schwade für Schwade des reifen Weizens fallen, sah Mrs. Hayfield, während sie die Garben band, lächeln, auf eine gewisse Art lächeln …
XV
Über den Dächern San Franciscos schob sich ein blasser Mond durch die Dämmerung. Mo machte Licht und übergoss ein zweites Mal die in der Kanne aufgequollenen Teeblätter mit heißem Wasser.
Ob er ernsthaft daran gedacht hatte, sein weiteres Leben als Farmer zu verbringen, darüber sprach Hans Kaspar nicht. Wir, sagte Mo, hätten ihm damals solche »Kulaken träume « kaum verziehen. Wir hatten damals anderes im Sinn. Wir wollten alle Verhältnisse umwerfen,
in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.
Im Lager fingen wir damit an. Der neue Kommandant sollte uns dabei helfen.
Der Neue rauchte Zigaretten und ließ den morgendlichen Zählappell vom Korporal allein durchführen. Als Erstes ließ er ihn Demokratie befehlen. Jede Baracke wähle einen Hüttenältesten. Und alle zusammen wählen den Lagerältesten. So sollte es sein.
Ehe die Talmudisten, die Vegetarier und die Katholiken überhaupt begonnen hatten, über einen Kandidaten nachzudenken, präsentierte Baracke 9 einen kleinen Hessen mit roten Bäckchen. Nun, der freundliche Mann wurde gewählt und verlas sogleich die neue Lagerordnung. Gerechtigkeit war das Zauberwort: Sachertorte für alle, Schluss mit der Kantinenkorruption. Gleiche Rechte, gleiche Pflichten, ergo: Arbeit für alle. Wer konnte da seine Stimme verweigern?
Perfekt, diese Deutschen, perfekt! Der Kommandant war begeistert und schickte die Lagerordnung, entsprechend kommentiert, als Muster für andere Lager an seinen Vorgesetzten.
Der Küchenschornstein rauchte, die Lagerwege waren mit feinen Harkenmustern verziert, und die Latrine war ein Hort der Reinlichkeit. Der Kommandant ließ eine Sonderration Zigaretten verteilen. Im Café drängelten sich die Gutscheinbesitzer, so dass die Köche und Konditoren kaum hinterherkamen. Abends gab es Varieté, Chansons und verschiedene artistische Darbietungen, sogar ein Ballett wurde aufgeboten, dessen falsche Brüste und haarige Waden das Publikum deftig kommentierte. Alle waren zufrieden, fast alle. Die ehemaligen Geldbesitzer murrten, zu meutern wagten sie nicht.
Baracke 9 hatte dem freundlichen Lagerpräsidenten ein Hilfskomitee zur Seite gestellt, das die Arbeit verteilte und entsprechende Gutscheine ausgab. Vorzugsweise wurden der Bürstenfabrikant und andere vom Komitee als Bourgeois klassifizierte Mitgefangene zu niederen Hilfsdiensten eingeteilt. Mal schrubbte also der Bayer die Essensbaracke, mal schleppte er Abfallkübel. Ich, sagte Mo, sah das nicht ohne Schadenfreude.
Als man ihn eines Morgens jedoch zum Latrinendienst einteilte, streikte der Bayer. Er sprach plötzlich Hochdeutsch, so als wolle er sichergehen, dass ihn auch jeder verstand:
Der Letzte, der mich zur Arbeit gezwungen hat, trug einen Totenkopf an der Mütze. Und das macht keiner mehr, auch ihr nicht. Jetzt ist Schluss.
Diese Worte, sagte Mo, hatten ihre Wirkung. So sehr, dass du sie noch heute nachlesen kannst. Da, Mo zog ein Buch aus dem Regal, einer von uns hat alles aufgeschrieben über«Das Gefangenenschiff«.
Die meisten von uns hatten, bevor sie Deutschland verließen, Schikanen, Verhöre oder Lageraufenthalte hinter sich, und plötzlich verglich man sie mit ihren Peinigern. Ja, nichts verwandelt schneller als der Hass. Doch in diesen Spiegel wollte keiner sehen.
Wir bauten uns um den Verweigerer auf und hätten ihm mit Sicherheit eine Abreibung verpasst, wäre da nicht Hans gewesen. Mit leiser Stimme sagte er: Lasst ihn, ich übernehme das!
Schon wollte Hans mit der Schaufel in der Hand losziehen, da stellte ihm einer ein Bein. Nun griff sich der Bayer den Beinsteller, und es
Weitere Kostenlose Bücher