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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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Stunden später: Der verführerische Laib säuberlich in Scheiben geschnitten, eine jede mit unversehrter Rinde –
    Henri, ruft die Mutterküchenstimme, magst du wieder den Kanten?
    Klirrende Antwort eines Bierkastenträgers: Nööö. Und leise: Iss doch selber.
    – und jede Scheibe mit Wurst und Käse und Ei belegt, kunstvoll getürmt und grün drapiert mit Petersilie erwartet mit dem Volljährigen im Partykeller die Gäste.
    Sieben Jahre später, nein, nur sieben Stunden: Auf dem Sprelacart des Tisches Rotweinpfützen, Kronkorken, Zigarettenasche, überquellende Aschenbecher und eine letzte verschrumpelnde Schnitte. Über Decken und Schlafsäcken Alkoholdunst.
    Eine Hand, ein ganzer Arm schiebt sich aus einer Decke unter eine andere Decke. Die Hand tastet nach einer Brust, hat die festweiche Rundung gefunden, greift zu …
    Ein Ellenbogen trifft Helder in die Seite.
    Du, flüstert er, ich habe doch Geburtstag.
    Du hattest, Henri, du hattest. Das ist schon ein paar Stunden her.
    Mensch, Rosita, weißt du noch, im Kino …
    Das ist schon ein paar Jahre her.
    Erst knutschen wollen, dann … – nun gut, zwischen ihrem
wollen
und seinem
dann
war tatsächlich etwas Zeit vergangen.
    Als er aufwacht oder sich aufwachend gibt, sind alle weg, haben schon in der Mutterküche gefrühstückt, haben das Haus verlassen, sind nach Hause getappt, schlafen dort längst weiter. Helder räumt auf, die Gerüche bleiben, senken sich hinunter bis in den Magen: kalter Rauch, Bierpfützen, auf halber Treppe, weil der Weg zur Toilette zu weit war, Erbrochenes. Helder legt, zwei Stufen weiter, das Seine daneben.
    Sieben Stunden später: im Brotkasten ein Kanten, die Rinde weich und ohne Biss.
    Was, Helder, wirst du finden im sieben mal siebten Jahr deines Lebens?
     
    Hans Kaspar, der Großvater, muss auf Nauru im neunundvierzigsten Lebensjahr gewesen sein, hager und von der Arbeitnoch nicht verbraucht, sondern gekräftigt, graue pochende Schläfen. Immer wieder strich er mit der linken Hand die Haare zurück, die rechte hebelte mit dem Schraubenschlüssel an einer Stellschraube der Treibstange seiner Lok.
    Er, denkt Helder, wird Schmieröl gerochen haben und Rauch. So wird sein Riechhirn diese Information zum Mandelkern geschickt haben. Der setzte ein Gemisch an Emotionen frei, die wiederum im benachbarten Hippocampus andere Erinnerungsbilder aufriefen. Erlebnisse, die ihrerseits einst Gerüche ausgedünstet haben: Bohnerwachs im Bahndammhaus. Der sanft aufsteigende Rauch des in Ahmads Wasserpfeife verglühenden Hanfs. Ein scharfer Seifengeruch aus dem Kragen des Offiziers, ein pelzig-bitterer Tabakatem hängt in den Worten: Lassen Sie den Zug endlich abfahren, Mann!
    Ein Windstoß jagte an der Grubenbahn vorüber, Guanostaub wirbelte auf. Ein neuer Geruch, fischig und stechend, wie Ammoniak.
    Einige Jahre zuvor, 1942, hatten die Japaner die Phosphatmine übernommen. Sie besetzten der Einfachheit halber gleich die ganze Insel mit ihren Soldaten. Wie schon einen Krieg zuvor die Australier dies getan hatten. Ebenso, wie es wiederum dreißig Jahre davor die Deutschen getan hatten. Die nannten das damals Schutzherrschaft.
    Möglicherweise erschienen den neuen Herren aus Japan die eintausendzweihundert Insulaner ungeeignet für die Arbeit im Bergwerk. Jedenfalls wurden sie kurzerhand auf ein anderes Inselchen verschifft. Die Arbeit dort, welcher Art auch immer, muss den Nauruern auch nicht bekommen sein. Als sie drei Jahre später wiederkamen, zählten die ebenfalls zurückgekehrten australischen Verwalter nur noch siebenhundert Eingeborene. Sie waren noch immer ungeeignet für das Bergwerk.
    Es fehlte an Arbeitskräften. So kam es, dass die Stelle eines Grubenbahnfahrers vakant war. So lange, bis HansKaspar Brügg die Lok in überzeugender Weise in Gang zu setzen verstand. Eines Tages taumelte ein Arbeiter quer über die Gleise und brach wenige Meter vor Hans Kaspars Lok zusammen.
    Keola Palaoa vertrug den Staub nicht, er vertrug diese Arbeit nicht, und vor allem vertrug er die Fremde nicht. Den Branntwein allerdings vertrug er auch nicht.
    Hans Kaspar schleppte ihn von den Gleisen.
     
    Der pazifische Krieg hatte Keola von Samoa vertrieben. So hatte er es formuliert, als Hans Kaspar nach Feierabend mit ihm zusammensaß. Später stellte sich heraus, der Krieg war ein familiärer gewesen. Genauer gesagt, die Familie seiner Liebsten wollte ihn nicht haben. Besonders deren Brüder, die ihrer Abneigung gegen Keola tatkräftig Ausdruck verliehen.

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