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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Stoeckel
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der Arbeitsbühne an einem Schriftzeichen, größer als die bisherigen, arbeiten. Hans Kaspar, in der Absicht, später die Bedeutung dieses Zeichens zu erfragen, prägte es sich ein. Es war das Zeichen für Liebe.
    Dann blickte er immer wieder über Schulter und Bug zur Insel, seinem Ziel. Als er noch einmal den Blick zurückschweifen ließ, war der Fliegende Japaner verschwunden.
     
    Wo die Palmen sich verneigen, wo die Purpursonne weint, will ich aus der Gondel steigen …,
aus Helders Erinnerung klang ironisch das Lied einer Musikband herauf, die einmal Susannes wie auch seine Lieblingsband gewesen war.
Einmal wissen, dieses bleibt für immer …
– Nichts blieb für immer, nur die Klischees, die einmal Wirklichkeit waren und vielleicht irgendwo auch noch sind. Weiße Strände, stille Buchten, kristallklares Wasser, buntleuchtende Fische und natürlich Frauen … Frauen, nackte Frauenfüße, rhythmisch schwingende Grasröcke, Blütenkränze über zimtfarbenen Brüsten, Blätterkronen auf wildschwarzen Mähnen und Augen … Augen … dunkle Lagunen im Schimmer des Mondes.
    Ach, wie Riffe, Helder, lauern die wieder und wieder gefertigten Bilder unter der Oberfläche unseres Bewusstseins.
    Versuchen wir zu landen, ohne dass Korallenblöcke unterm Druck der Brandung uns das Boot zertrümmern.
    Die Insel, deren Dunst die Sonne am Vortag zu einer Wolke aufgesogen hatte, war ein Werk der Korallen. In Jahrtausenden hatten sie ihre kobaltblauen Skelette auf einem alten Vulkankegel hinterlassen. Der Berg hatte sich gehoben, und Sturm und Regen hatten seine blaue Krone bizarr geschliffen. Wieder war der stumme König ins Meer gesunken. In seinen Mulden und Höhlungen, zwischen den Klippen und Zacken des Kalksteinriffs lagerten sich Sedimente ab. Der Berg tauchte erneut empor, und sein alter Schädel wurde von Pflanzen besiedelt, Vögel nisteten auf seinen Klippen und füllten die Senken ringsum mit Exkrementen. Ein Paradies auf Vogelkot, zwanzig Quadratkilometer, kaum größer als Hiddensee.
    Was für ein Schatz, dachte ein englischer Kaufmann im Jahr 1898 und schickte einen Klumpen davon nach Australien mit dem Vorschlag, daraus Indianer, Soldaten und andere Figuren für Kinder zu schnitzen.
    Entweder war das diese Idee formulierende Schreiben verlorengegangen, oder aber der manchmal recht unansehnlich daherkommende Fortschritt traf auf die bürokratische Ignoranz eines schlechtgelaunten Bürovorstehers. Jedenfalls, so lässt sich noch heute nachlesen, diente der Stein einige Jahre als Türstopper, bis ihn ein neugieriger Zeitgenosse ins Labor schleppte und herausfand, das Ding bestand zu achtzig Prozent aus Phosphat.
    So kam es, dass ein Mensch mitten im großen Meer nicht nur etwas zum Anlanden fand, sondern auch Obdach und Arbeit in einem staubigen Bergwerk dazu.
    Man sah Hans Kaspar später immer wieder vor der kleinen Lokomotive einer Grubenbahn stehen und mit der Hand über gusseiserne deutsche Schriftzüge streichen. In den Versen, den Zeichen die sie auf die Stahlplatten des Kreuzers geschrieben hatten, waren oft Zwischenräumegeblieben, Durchgänge in eine Weite, die Geborgenheit zugleich war.
    Und die Buchstaben hier? BORSIG, das war für Hans Kaspar nicht nur ein Firmenname. Da war auch ein Durchgang. Vielleicht eine Tür in die kleine ordentliche Welt von Krahnsdorf-Brandt. Oder ein Fenster in eine fernere noch, in die anatolische Hochebene, wo es neben den Gleisen nach Minze roch und Thymian. Ein Geruch wie ein Lächeln, wie frische Maulbeerblätter, wie feuchte Haut, wie … wie das Leben, wenn man achtzehn ist.
     
    Helder durchstöberte das limbische System seines Hirns, fand dort keine Gerüche, nur ein Bild mit dem Vermerk
Achtzehnter Geburtstag
: ein frisches Brot in seinen Händen, eben vom Bäcker geholt. Und da ist er auch schon, der Geruch zu diesem Brot, ofenwarm und knusprig. So verlockend, dass selbst der steinerne Soldat auf dem Kriegerdenkmal hinter den verwilderten Büschen sich im Fallen noch die Lippen leckt. Da entscheidet sich, ob Helder volljährig, also erwachsen ist oder noch ein Kind. Wird er die Zähne in die knusprige Brotrinde schlagen, dass es kracht und kleine Rindenbröckchen fliegen? Einer sieht immer zu, hinter den Vorhängen, durch den Spalt einer sich schließenden Tür, vom Himmel hoch, von nebenan … Selbst wenn ausnahmsweise nicht, es bleiben Spuren: Wer hat von meinem Brotchen gegessen?
    Helder hat sich entschieden. Helder ist erwachsen. Welch ein Verdikt!
    Sieben

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