Der Lavagaenger
Das erste Mal trafen ihn ihre Fäuste. Das zweite Mal zersplitterte eine Bambusstange auf seinem Schädel. Das dritte Mal warfen sie ihn auf den Boden und hielten ihn fest. Dann riefen sie ihre Matriarchin. Die schlurfte herbei, hob ihren Rock und hockte sich nieder, wobei sie bemüht war, sich ziemlich genau über Keolas entsetztem Gesicht in Stellung zu bringen. Sein Gezeter hielt die betagte Dame jedoch nicht davon ab, zu tun, was ihr beliebte: Sie urinierte.
Solcherart entehrt, hatte Keola sein Dorf verlassen. Ein Plakat der Pacific Phosphate Company in der Hauptstadt versprach Wohlstand für jedermann. Keola sah sich in feinen europäischen Kleidern in sein Dorf zurückkehren und die Frevler beschämen.
Altweiberurin und Vogeldreck. Der Schnaps wusch sie weg und brannte doch in den Wunden. Niemand darf derlei dem Nachfahren eines Königs antun. Sagte Keola.
Hans Kaspar lachte. Doch in diesem Lachen merkte er auf, denn Keola hatte in seiner vokalreichen Muttersprache leise und selbstvergessen zu singen begonnen. DerKlang dieser Laute faszinierte Hans Kaspar auf merkwürdige Weise. Ähnlich hatten ihn nur an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit Ahmads Lieder bezaubert. So werden wohl kleine Kinder von den Lauten einer ihnen noch fremden Welt in den Bann gezogen, damit sie sich diese zur Heimat machen. In Hans Kaspar aber weckten die fremdartigen Laute Sehnsucht. Vielleicht die Sehnsucht nach einer verlorenen Heimat.
XVIII
Keolas Großmutter väterlicherseits war bis ins hohe Alter eine klar denkende und gewissenhafte Frau. So ist nicht anzunehmen, dass sie in ihren Erzählungen einige Details durcheinandergebracht oder gar aufgebauscht hätte. Vielmehr war es die Phantasie des Kindes Keola, die ihren früh verstorbenen Mann, William Christopher Palaoa, posthum zum König ausrief. Wäre es Hans Kaspar möglich gewesen, Madame Palaoa zu befragen, hätte sie gesagt: Gewiss, er war der König meines Herzens. Und vorher war er, wie er sich selbst nannte: König der Kombüse.
Zwei Schiffe waren es, die an einem meereskühlen Tag des Jahres 1887 vor Samoa kreuzten. Das eine war die
Kamilou
, erstes (und einziges) Schiff eines wirklichen Königs, Seiner Majestät Kalākauas I., Herrscher über die Sandwichinseln, heute bekannter unter dem Namen Hawaii. Das zweite Schiff, die
Albatros
, war ein deutsches Kanonenboot.
Es musste den Kanzler des Deutschen Reiches empören, dass dieser
Lustige König
, wie er seit seiner Europareise genannt wurde, versuchte, sich in die Auseinandersetzungen mit den Briten um die ozeanischen Kolonien einzumischen. Was wollte dieser gekrönte Mohrenkopf? Eine Föderation pazifischer Inseln? Gar ein polynesisches Königreich? Lächerlich! Bismarck drohte kurzerhand mit der Annexion der Sandwichinseln.
So hatte denn der Kapitän der
Albatros
Order, das Einlaufen der
Kamilou
in den Hafen der samoanischen Hauptstadt Apia zu verhindern. Doch bevor auch nur eine dervier Kanonen der
Albatros
einen Schuss abgab, kam es auf dem hawaiischen Schiff zu einer Meuterei.
Die Gründe für die Meuterei auf der
Kamilou
und damit für das schnelle Ende einer polynesischen Reichsidee sind uns nicht überliefert. William Christopher Palaoa bestritt zeit seines Lebens heftig, dass seine Kochkunst auch nur den geringsten Anlass zur Unzufriedenheit gegeben haben könnte. Auch habe die Besatzung nicht etwa aus Feigheit gemeutert. Vielmehr, so William Christopher seiner Frau, Keolas Großmutter, gegenüber, habe einer der Offiziere einen Putsch angezettelt.
Wie es dazu kam? Nun, unsere kühne These lautet: Die polynesische Reichseinigung scheiterte an der Musikliebe des hawaiischen Monarchen. Dies im zufälligen Detail ebenso wie im Symbolischen: die Möglichkeit einer anderen Existenz – und ihr Scheitern in der Realität. Die Geschichte, auch unsere, ist schließlich immer eine Geschichte der glücklosen Suche nach dem glücklichen Leben, im Kleinen wie im Großen.
Erinnern wir uns, Helder: Der Kaiser mit der Rassel war das Traumbild deiner Urgroßmutter.
Der König mit der Ukulele, das war Kalākaua I.
David Kalākaua träumte sich selbst. Er träumte sich noch, als sein massiger Körper in den seidenen Kissen eines Hotels in San Francisco im Sterben lag. Polynesische Könige sterben jung, dachte er und träumte, die Hand zu heben, ein Zeichen zu machen, dass jemand ein Blatt Papier brächte, diesen Satz zu notieren.
War er jung? Er war im fünfundfünfzigsten Lebensjahr. Sein Vorgänger war
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