Der Lavagaenger
mit vierzig dahingeschieden. Dessen Vorgänger mit zweiundvierzig, der davor mit neunundzwanzig Jahren … Eine Genealogie des schnellen Sterbens. Der Könige wie ihrer Untertanen. Vierhunderttausend sollen es zu Cooks Zeiten 1799 gewesen sein, knapp hundertJahre später, als Kalākaua im Sterben lag, waren es, Mischlinge eingerechnet, noch vierzigtausend. Dezimiert von Lepra und Syphilis, von Tuberkulose und Grippe, Krankheiten, die mit den Matrosen, Missionaren, Siedlern und Plantagenarbeitern übers Meer gekommen waren.
Dieses Volk, hatte einer von denen gesagt, sei nicht robust genug. Auch nicht ihr letzter König, trotz seiner stattlichen Körpergröße von knapp zwei Metern.
Hatte er die Hand gehoben, oder hatte er das nur geträumt? War alles nur ein Traum gewesen? Der Mantel aus 450 000 goldgelben Federn, den schon der Große Kamehameha getragen hatte? Die Krone mit 521 Diamanten, 20 Opalen, 8 Smaragden, 6 schwarzen Kuikuinüssen und einem Karfunkel, die er sich nach alter Sitte selbst aufs Haupt setzte? Die segnende Hand des calvinistischen Pfarrers und die Betelnuss aus der des Kahuna-Priesters, während draußen schon die Royal Hawaiian Band den ersten Walzer intonierte und die Tänzer ein letztes Mal den Hula probten?
Alles verschmolz, wie Dichtung, Musik und Tanz beim Hula, in seiner Erinnerung. Ein Leben wie ein Tag, vom Atem der alten Götter durchweht, immer wieder unterbrochen vom gestrengen Räuspern des christlichen Gottes.
Es könnte auch gut sein, dass alles bald vorüber war. Der König schämte sich plötzlich dieses Gedankens. Er schämte sich bis in seine Träume hinein. Da begann er zu weinen. Er weinte um sein verlorenes Volk.
In seiner Jugend hatte David Kalākaua eine von amerikanischen Missionaren geführte Schule besucht. Eines Tages wäre er dieser Schule beinahe verwiesen worden.
In der Nacht vor diesem Tag, so der erregte Schulleiter Davids Eltern gegenüber, soll sich David in eine der Hütten des Dorfes geschlichen haben und dort auf das Lager der Hausherrin gekrochen sein. Eine verheiratete, siebenunddreißigjährige Frau! Ich bitte Sie!!
Bei der ein wenig inquisitorischen Befragung Davids gab der an, Ziel des nächtlichen Ausflugs sei die siebzehnjährige Tochter der Anklägerin gewesen. Sicher habe er seinen Irrtum sofort bemerkt, sei aber von der Frau kräftig umschlungen worden. So lange, bis er laut nach Hilfe gerufen habe. Woraufhin das ganze Dorf zusammengelaufen sei.
Natürlich, sagte die Frau, habe sie den Eindringling festgehalten. Allerdings sei sie es gewesen, die um Hilfe geschrien habe.
Lieber David, sagte der Schulleiter und legte väterlich den Arm um dessen Schulter, wer auch immer Ziel deines nächtlichen Ausflugs war, derlei mag ja bei Eingeborenen Brauch sein (an dieser Stelle glitt sein Blick herablassend zu Davids Eltern hinüber), für einen Christen ziemt sich so etwas nicht!
Aber ich liebe sie, sprach David trotzig.
Liebe?!, der Missionar lächelte amüsiert. Dann, streng an die Eltern gewandt: Ihr Sohn muss seine animalischen Triebe ausmerzen. Sonst ist für ihn kein Platz in unserer Gemeinschaft.
Als David mit seinen ratlos schweigenden Eltern das Direktorenzimmer verließ, hörte er, wie der Direktor zu seinem Sekretär sprach: Es sind und bleiben doch immer nur Wilde.
Damals war er das erste Mal heimlich in das Tal der rotblühenden Bäume zu einem alten Kahuna geschlichen, dem man große Weisheit und magische Fähigkeiten nachsagte.
David grüßte und ließ sich auf ein Zeichen des Alten vor dessen Behausung nieder.
Der Kahuna, ohne von einer Flechtarbeit aufzusehen, schwieg.
David wartete. Schließlich hielt er es nicht mehr aus: Sag mir, was wahr ist. Sag mir, wer ich bin.
Immer noch schwieg der Alte.
Also wiederholte David seine Frage, erläuterte sie und begann, da der Alte noch immer nichts sagte, von seinen Erlebnissen zu erzählen.
Nachdem sie so eine gute Zeit verbracht hatten, erhob sich David enttäuscht und irritiert. War der alte Mann taub und stumm, war er an einen Einfältigen geraten, statt an einen Weisen?
Jetzt lächelte der Alte, bedeutete David, sich wieder zu setzen, und reichte ihm das eben vollendete Stirnband.
Endlich öffnete der Alte den Mund und sagte: Du hast mir viele Fragen gestellt. Warum? Du selbst bist die Antwort.
Ein anderes Mal reichte er David eine Kokosschale, gefüllt mit dem berauschenden Sud aus der Wurzel der Kava-Pflanze, und hieß den Jungen, die Augen zu schließen. Höre auf die
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