Der Lavendelgarten
war sie pummelig gewesen und in der Teenagerzeit rund. Trotz der Ermahnungen ihrer Mutter, gesund und weniger zu essen, hatte Emilie im Alter von siebzehn Jahren die endlosen Gurken- und Melonendiäten aufgegeben, nur noch locker sitzende, bequeme Kleidung getragen und der Natur ihren Lauf gelassen.
Etwa zur selben Zeit hatte sie sich geweigert, weitere Feste zu besuchen, die dazu dienen sollten, sie mit der Crème de la Crème junger Männer und Frauen in ihrem Alter zusammenzubringen. Le Rallye wurde von Müttern organisiert, die sichergehen wollten, dass ihre Sprösslinge geeignete Freunde und potenzielle künftige Partner aus derselben Gesellschaftsschicht kennenlernten. Solche Rallyes waren sehr gefragt. Und Valérie konnte als eine de la Martinières jeden in ihrer Gruppe haben. Sie war verzweifelt gewesen, als Emilie verkündet hatte, sie wolle nicht mehr an den Cocktailpartys in den vornehmen Häusern teilnehmen.
»Wie kannst du nur deine Herkunft verleugnen?«, hatte Valérie entsetzt gefragt.
»Ich hasse das alles, Maman. Ich bin mehr als mein Familienname und ein Bankkonto. Tut mir leid, aber ich mag nicht mehr.«
Als Emilie im Spiegel ihre vollen Brüste, die weiblichen Hüften und die wohlgeformten Beine betrachtete, stellte sie fest, dass sie in den vergangenen Wochen abgenommen hatte. Was sie sah, überraschte sie. Obwohl ihre Knochenstruktur sie nie zu einer grazilen Nymphe werden lassen würde, war sie keinesfalls dick.
Bevor sie anfangen konnte, an sich herumzumäkeln, schlüpfte Emilie in ihr Nachthemd, legte sich ins Bett, schaltete das Licht aus und lauschte in die undurchdringliche Stille. Sie überlegte, was sie zu ihrer Freimütigkeit Sebastian gegenüber verführt hatte.
Es war sechs Jahre her, dass sie das letzte Mal so etwas wie einen Freund gehabt hatte. Die Sache mit Olivier, einem attraktiven neuen Tierarzt in ihrer Pariser Praxis, hatte nicht länger als ein paar Wochen gedauert. Es war nicht die große Liebe gewesen, aber ein warmer Körper in der Nacht und jemand, mit dem man sich gelegentlich beim Abendessen unterhalten konnte, half nun einmal gegen Einsamkeit. Am Ende war Olivier gegangen, weil sie sich zu wenig Mühe gegeben hatte, das wusste sie.
Letztlich hatte Emilie keine Ahnung, wie Liebe beschaffen war – eine Mischung aus körperlicher Anziehung, Geistesverwandtschaft … dazu vielleicht so etwas wie Faszination . Ihr war klar, dass sie sich noch nie richtig verliebt hatte. Wer sollte sie auch lieben?
In jener Nacht wälzte Emilie sich im Bett herum, weil die anstehenden Entscheidungen und die Verantwortung, um die sie sich nicht herumdrücken konnte, ihr keine Ruhe ließen. Doch noch mehr beschäftigte sie die Erinnerung an Sebastian.
Obwohl er nur kurz im Château gewesen war, hatte sie sich in seiner Gegenwart geborgen gefühlt. Er wirkte tüchtig, solide und … sie fand ihn attraktiv. Sie war in der Bibliothek nicht vor der Berührung seiner Hand zurückgezuckt, wie sonst, wenn jemand ihr zu nahe kam.
Wie traurig und einsam sie sein musste, wenn eine Zufallsbekanntschaft sie so beeindruckte! Warum sollte ein Mann, der auf den ersten Blick so weltgewandt und attraktiv erschien wie Sebastian, sie überhaupt eines zweiten Blickes würdigen? Er spielte in einer anderen Liga als sie, und es war ziemlich wahrscheinlich, dass sie ihn nie wieder sah. Es sei denn, sie wählte die Nummer auf seiner Visitenkarte und bat ihn, ihr bei der Bewertung des Matisse behilflich zu sein …
Emilie schüttelte grimmig den Kopf, weil sie wusste, dass sie den Mut dazu nie aufbringen würde.
Dieser Pfad führte ins Nichts. Sie war schon vor Jahren zu dem Schluss gekommen, dass man im Leben am besten allein blieb. So konnte man weder verletzt noch enttäuscht werden. Mit diesem Gedanken schlief Emilie endlich ein.
4
Nach einer unruhigen Nacht wachte Emilie spät auf. Beim Kaffee legte sie eine schier endlose Liste zu erledigender Dinge an. Auf einem zweiten Blatt Papier notierte sie Fragen, die sie sich selbst stellen musste. Anfangs hatte sie nur beide Häuser so schnell wie möglich verkaufen, ihr kompliziertes Erbe auflösen und zu ihrem sicheren Leben in Paris zurückkehren wollen. Doch jetzt …
Emilie kratzte sich mit dem Stift an der Nase und sah sich hilfesuchend in der Küche um. Das Haus in Paris wollte sie loswerden, denn es barg keine angenehmen Erinnerungen für sie. Ihre Einstellung zum Château jedoch hatte sich in den vergangenen Tagen verändert. Es war nicht nur
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