Der Lavendelgarten
auf die Leiter stieg und er begann, die Wand mit dem Roller zu bearbeiten.
»Was möchten Sie wissen?«
»Ach, nur ein paar grundsätzliche Dinge: Alter, Dienstgrad und -nummer.«
»Ich bin dreißig Jahre alt und in Paris zur Welt gekommen. Mein Vater war deutlich älter als meine Mutter und ist gestorben, als ich noch ein Kind war. Ich habe Veterinärmedizin studiert und praktiziert, in einem Apartment im Pariser Quartier Marais gewohnt und kurz nach dem Tod meiner Mutter Ihren Bruder kennengelernt. Das wär’s dann auch schon.«
»Wie bescheiden«, lautete Alex’ Kommentar. »Sie entstammen immerhin einer der großen französischen Adelsfamilien. Der Tod Ihrer Mutter war sogar der englischen Times eine Erwähnung wert.«
»Wissen Sie das von Ihrem Bruder?«
»Nein, ich habe mich im Internet über Sie informiert«, gestand er.
»Warum fragen Sie, wenn Sie ohnehin schon alles über mich wissen?«
»Weil es mich interessiert, wie Sie sich selbst darstellen. Schließlich sind wir jetzt verwandt. Offen gestanden sind Sie ganz anders als erwartet. Es wundert mich, dass Sie so gar nicht dem Klischee der verwöhnten, hochnäsigen französischen Prinzessin entsprechen. Die meisten jungen Frauen Ihres Standes würden sich vermutlich nicht für den Beruf der Tierärztin entscheiden, sondern sich eher einen wohlhabenden Ehemann suchen und je nach Saison zwischen Karibik und St. Tropez hin und her jetten.«
»Sie haben soeben treffend das Leben meiner Mutter beschrieben.« Emilie schmunzelte.
»Sehen Sie!« Alex schwenkte triumphierend den Roller. »Sie haben sich für ein Leben entschieden, das sich so ganz und gar von dem Ihrer Mutter unterscheidet. Ich frage mich, warum.« Er rieb sich gespielt nachdenklich das Kinn. »Vielleicht, Emilie, war Ihre Mutter so mit ihrer Schönheit und ihrem gesellschaftlichen Ansehen beschäftigt, dass sie keine Zeit für Sie hatte. Den Glamour ihres Luxuslebens fanden Sie abstoßend, weil Sie immer die zweite Geige spielten. Sie war der Inbegriff der schicken Französin, und vermutlich hatten Sie das Gefühl, ihren Erwartungen niemals gerecht werden zu können. Sie fühlten sich ungeliebt und vernachlässigt. Was heißt, dass Sie sehr wenig Selbstbewusstsein hatten. Deshalb haben Sie Ihre Herkunft verleugnet, genau wie Ihre Mutter Sie Ihrer Ansicht nach verleugnete, und sich für eine völlig andere Art von Leben entschieden.«
Emilie hielt sich verblüfft an der Leiter fest.
Alex fuhr mit seiner messerscharfen Analyse fort. »Als es dann um die Wahl des Berufs ging, haben Sie sich für den der Tierärztin entschieden, in dem Sie sich anders als Ihre Mutter, die niemals fürsorglich gewesen war, um Lebewesen kümmern konnten. Und was Männer anbelangt … Ich bezweifle, dass Sie viele Freunde gehabt haben. Tja, und dann taucht wie aus dem Nichts mein Bruder, der Ritter in glänzender Rüstung, auf, und Sie verlieben sich Hals über Kopf in ihn …«
» Es reicht! Stopp! Sie kennen mich doch überhaupt nicht.« Emilie begann so heftig zu zittern, dass die Leiter ins Wanken geriet. Sie kletterte herunter. »Wie können Sie es wagen, so mit mir zu sprechen? Sie wissen nichts über mich! Überhaupt nichts!«
»Aha …« Alex grinste. »Nun habe ich also doch die hochnäsige französische Prinzessin aufgescheucht, die irgendwo in den Tiefen Ihrer Seele schlummert und die Sie so gern verbergen würden.«
» Es reicht , sage ich!«
Bevor sie es sich versah, hatte sie Alex eine schallende Ohrfeige gegeben. Sie erstarrte entsetzt. Zum ersten Mal im Leben hatte sie jemanden geschlagen.
»Autsch.« Alex rieb sich die Wange.
»Tut mir leid. Das hätte ich nicht tun dürfen.«
»Schon gut, geschieht mir recht. Ich bin wie immer zu weit gegangen. Bitte, Emilie, verzeihen Sie mir.«
Sie verließ wortlos die Küche und lief, zwei Stufen auf einmal, die Treppe hinauf. In ihrem Zimmer schlug sie keuchend die Tür hinter sich zu, verschloss sie, warf sich aufs Bett und begann laut zu schluchzen. Sie fühlte sich nackt und wehrlos … Wie konnte er glauben, sie zu kennen? Und wie konnte er sie so erniedrigen?
Was war er nur für ein Ungeheuer?
Emilie überlegte, ob sie Sebastian anrufen und ihm sagen solle, dass sie nicht in Blackmoor Hall bleiben könne und nach London kommen würde. Sie würde mit dem Land Rover zum Bahnhof fahren, dort einen Zug besteigen und sich schon wenige Stunden später in seine tröstenden Arme flüchten.
Nein , ermahnte sie sich. Er hatte sie vor Alex gewarnt;
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