Der Lavendelgarten
ausgegangen, dass Sie als Französin eher Britin als Vegetarierin werden würden, und habe Steaks für uns vorbereitet.«
Emilie beobachtete, wie Alex zwei marinierte Sirloinsteaks aus dem Kühlschrank holte, auf einen Teller legte und sich mit dem Rollstuhl zu dem leise vor sich hin brummenden Ofen drehte, um einen Blick hineinzuwerfen.
»Kann ich irgendwie helfen?«, fragte sie.
»Nein, danke. Genießen Sie einfach den Wein. Der Salat ist so weit fertig. Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir hier essen? Das Esszimmer finde ich für zwei ein bisschen förmlich.«
»Sie haben ein Esszimmer?«
»Natürlich.« Alex hob eine Augenbraue.
»Nein, das macht mir nichts aus. Wie besorgen Sie sich die Lebensmittel?«
»Noch nie was von Freihauslieferung gehört? Ich gebe telefonisch eine Bestellung auf, und der örtliche Farmladen bringt mir die Sachen.«
»Gut zu wissen«, sagte Emilie, wieder verblüfft über Alex’ Einfallsreichtum. »Gibt es etwas, das Sie nicht können?«
»Ich kriege fast alles hin, weswegen es mich ja so frustriert, dass mir ständig irgendwelche Pflegerinnen aufgedrängt werden. Zugegeben, anfangs war ich tatsächlich noch ziemlich hilflos und brauchte die Rund-um-die-Uhr-Hilfe, die Seb für mich organisiert hatte. Im Lauf der letzten zwei Jahre habe ich mich jedoch an meinen Zustand gewöhnt und meine Oberkörpermuskulatur trainiert. Inzwischen kann ich mich allein in den Rollstuhl und wieder heraus hieven. Ja, hin und wieder schätze ich die Entfernung falsch ein und lande mit dem Hintern auf dem Boden, aber zum Glück passiert das immer seltener.« Alex gab das Dressing über den Salat und hob es unter, bevor er die Schüssel auf den Tisch stellte. »Am meisten nervt mich, dass ich für alles so lange brauche. Wenn ich abends im Bett liege und mein Buch im Wohnzimmer vergessen habe, muss ich wieder in den Rollstuhl, hinüberfahren, zurück und noch mal ins Bett. Das Gleiche gilt fürs Duschen und Anziehen. Jede ganz normale Körperfunktion muss geplant werden wie eine Militäraktion. Aber weil der Mensch anpassungsfähig ist, hat mein Gehirn meine ungewöhnlichen Bedürfnisse programmiert, und die routinemäßigen Abläufe funktionieren ganz gut.«
»Glauben Sie, Sie könnten ohne Pflegerin auskommen?«
»Emilie, sehen Sie mich an.« Alex breitete die Arme aus. »Ich koche in meiner ordentlichen Wohnung für Sie. Ohne fremde Hilfe. Das habe ich Sebastian immer wieder zu erklären versucht, aber er weigert sich, mir zuzuhören.«
»Vielleicht hat er Angst, dass Ihnen etwas passiert.«
Alex seufzte. »Ich finde, wir sollten uns darauf einigen, nicht mehr über meinen Bruder und seine Motive zu sprechen. Für alle Beteiligten ist es das Beste, wenn dieses Thema ausgeklammert bleibt.«
»Aber Sie können ihm doch wohl nichts vorwerfen? Schließlich hat er viel Geld dafür ausgegeben, es Ihnen hier wohnlich zu machen, während er selbst in einem dringend renovierungsbedürftigen Haus lebt.«
Alex lachte spöttisch. »Wie gesagt: Es ist das Beste, wenn wir nicht über meinen Bruder sprechen. Setzen Sie sich doch. Wir wollen essen.«
Es war bereits halb zwölf, als Emilie sich von Alex verabschiedete und die Tür zur kalten, düsteren Seite des Hauses öffnete, die nach der Helligkeit und der modernen Einrichtung bei Alex noch dunkler wirkte. Auf dem Weg zu ihrem Zimmer fühlte sie sich wie Alice, die soeben das Wunderland verlassen hatte.
Die Heizung in ihrem Bereich hatte sich schon vor Stunden ausgeschaltet, und im Schlafzimmer herrschte Eiseskälte. Emilie zog sich aus, so schnell sie konnte, und schlüpfte unter die Bettdecke. Das Gespräch mit Alex hatte sie als sehr anregend empfunden.
Bei dem ausgezeichneten Rhône-Wein hatten sie sich über Paris unterhalten, wo Alex zwei Jahre gewesen war, über ihre französischen Lieblingsautoren sowie über Musik und Wissenschaft. Emilie war beeindruckt von Alex’ enormem kulturellem Wissen.
Auf ihre Bewunderung hatte Alex mit einem Achselzucken reagiert. »Ich hielt mich oft ohne einen Pfennig Geld in Großstädten auf, und die besten Orte, den Tag im Warmen zu verbringen, sind Museen, Kunstgalerien und Bibliotheken. Außerdem habe ich ein Gedächtnis wie ein Elefant. Ich vergesse nichts. Geben Sie also in Zukunft acht, was Sie sagen, Emilie«, warnte er sie.
Nach dem Essen hatte Alex sich geschickt aus dem Rollstuhl aufs Sofa gehievt und dort, abgesehen von den Beinen, die in merkwürdigem Winkel zueinander standen, gewirkt wie jeder
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