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Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Der Leguan will das nicht: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giusi Marchetta
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muss er ein wenig blind, ein wenig taub, ein wenig autistisch sein. Zu Hause.
    Andrea fällt ihn von hinten an. Filippo befreit sich und drückt ihn an sich, indem er ihm einen Arm um den Hals legt.
    »Er ist toll«, sagt er.
 
    Der Bahnsteig hat sich nicht verändert, seit ich Anna hier verabschiedet habe.
    Porta Nuova scheint vom Chaos, das man von anderen Bahnhöfen kennt, verschont zu bleiben. Man fährt ab, kommt an, geht weiter.
    Neben mir wirft eine Frau mittleren Alters im geblümten Kleid ihre Zigarette weg und zündet sich eine neue an. Als der Zug in den Bahnhof einfährt, treten wir beide einen Schritt zurück, erschrocken über die Geschwindigkeit, mit der er auf uns zurast.
    Sie sind da.
    Manche möchten so schnell wie möglich nach Hause, andere würden am liebsten gleich wieder umkehren. In wenigen Minuten reißt uns die Menschenmenge, die sich aus dem roten Ungetüm in unsere Richtung ergießt, vonallen Seiten mit sich fort. Gegen diese Übermacht kommen wir nicht an.
    Am Rande einer lärmenden Familienwiederzusammenführung arbeitet Gianni sich vorwärts. Mit einer Hand presst er die Reisetasche an seinen Körper und überlässt den anderen jeden nötigen Platz für ihre Koffer und Taschen. Ich will gerade den Arm hochreißen, aber das ist nicht notwendig. Er hat mich schon gesehen.
 
    Morgen in aller Frühe wird er wieder nach Neapel zurückfliegen. Da er sich letzten Monat bereit erklärt hatte, vier Dienstreisen ins Ausland zu unternehmen, darunter die Konferenz in der Mailänder Dependance seiner Firma heute Morgen, erhielt er die Erlaubnis, erst einen Tag später zurückzufliegen und kann so eine Nacht in Turin verbringen.
    »Mitarbeitermotivation nennt sich das …«
    Er lächelt, aber die Krähenfüße um seine Augen verraten mir, dass er übermüdet ist.
    »Du hast ja gar keinen Bart mehr.«
    Immer noch blickt er durchs Fenster des Linienbusses auf die eleganten Gebäude der Innenstadt, die kein Vertrauen erwecken.
    »Er hat mich gestört«, sagt er nach einer Weile. Er hat sie gestört, denke ich, er hat sie gestört.
 
    Innerhalb von zehn Minuten hat er geduscht und sich umgezogen. Seit April benutzt der alte Gianni keinen Fön mehr, trägt in seiner Freizeit Jeans, zieht den erstbesten sauberen Pulli an, der ihm in die Hände fällt. Es ist schön, ihn aus meinem Badezimmer kommen zu sehen.
    »Stört es dich, wenn ich kurz mal was nachschaue?«
    Nein, keineswegs. Nichts an ihm stört mich. Ich biete an, Kaffee zu machen, während er seinen Laptop einschaltet, die Mails durchsieht, einem ungeduldigen Lieferanten antwortet.
    Er will den Computer gerade ausschalten, als sein Chef ihn über Skype kontaktiert. Der Zugriff dieses Mannes auf seine Untergebenen, die Art und Weise, wie es ihm gelingt, mit der Zeit in ihr Privatleben einzudringen, grenzt an Sadismus.
    Er sammelt sie wie Jagdtrophäen. Maskiert sein Verlangen nach Bewunderung als Strenge seinen Mitarbeitern gegenüber; verteilt willkürlich Prämien und Urlaubstage; entlässt seine Mitarbeiter paarweise, ruft dann einen wieder zurück, damit dieser sich ihm gegenüber verpflichtet fühlt und sich glücklicher schätzt als der andere. Er stellt nur Frauen ein, mit denen er schon im Bett war. Das ist seine Vorstellung von einem Harem.
    Jetzt pfeift er. Es ist seine Art, Gianni nach Konferenzschluss zu gratulieren: Die Nacht in Turin kann in seinen Augen nur einen Grund haben.
    Ich schiele auf den Bildschirm, darauf bedacht, nicht in den Umkreis der Webcam zu geraten. Der Chef ist dick geworden, aber das ist es nicht, was ich denke, als ich ihn auf dem Laptop sehe. Das passende Wort ist: wohlgenährt. Üppig. Rundherum satt.
    Gianni ist kurz angebunden und verabschiedet sich von ihm mit dem Hinweis, dass er ja jetzt nicht mehr im Dienst sei. Der Chef lacht und pfeift erneut ekelhaft jovial.
 
    Wir gehen am Ufer des Po entlang, bis er zur Dora wird. Spaziergänge mit Gianni sind immer gleich. Sein ruhiger, gemächlicher Schritt, stets bereit, sich dem meinen oder dem Verkehr anzupassen, sein abwechselndes Reden, Zuhören oder Schweigen, seine Fähigkeit, sich nur dann ablenken zu lassen, wenn es angebracht ist, vertreiben die Traurigkeit, die Turin umgibt, verwandeln die geraden Straßen der Stadt in zauberhaft verwinkelte neapolitanische Gassen. Das könnten wir überall tun. Und sollten es auch tun.
    Sie haben uns die Zukunft gestohlen , beschweren sich die Spruchbänder, die nach der Kundgebung heute Morgen vor dem Jugendzentrum

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