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Der Leichenkeller

Der Leichenkeller

Titel: Der Leichenkeller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Fairstein
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aufgetaucht. Vermutlich hatte er in den engen, verwinkelten Straßen keinen Parkplatz gefunden.
    Ich schloss die Augen und dachte an die Paige Vallis, die ich gekannt hatte, an die Teile ihres Lebens, an denen sie mich hatte teilhaben lassen, an ihre schreckliche Qual in den letzten Tagen und Stunden vor ihrem Tod. Ich brauchte keine Erinnerung daran, dass das Leben nicht fair war. Das erlebte ich täglich in meinem Job.
    Kurz vor neun Uhr kam der Hausmeister mit einem großen Besen in der Hand in den Raum und fragte mich, ob es mir etwas ausmachen würde zu gehen. Ich entschuldigte mich, dass ich so lange geblieben war, sprach noch ein Gebet für Paige und nahm meinen Schirm vom Sitz neben mir.
    Von Mercer Wallace war noch immer nichts zu sehen. Ich stellte mich zum Schutz vor dem Regen im Treppenhaus des alten Gebäudes unter und hielt in beide Richtungen nach seinem Auto Ausschau. Dann holte ich mein Handy aus der Tasche und schaltete es ein.
    »Sie haben eine neue Nachricht« , verkündete die Ansage. » Nachricht Eins. Zwanzig Uhr zwölf. ›Hey, Alex. Ich stecke im Thirty-fourth-Street-Tunnel fest. Schlimmer Unfall. Ich komme, so schnell ich kann.‹«
    Eine große Gestalt in einem Kapuzenparka, einen Schirm über dem Kopf, suchte neben mir vor dem Regen Unterschlupf. Der Mann roch nach Alkohol und murmelte etwas vor sich hin. Ich war nicht darauf erpicht, ihn mir genauer anzusehen, und trat auf den leeren Bürgersteig hinaus.
    Der Mann folgte mir. Ich blickte mich um in der Hoffnung, einen Streifenbeamten zu sehen. Der Verkehr auf der State Street war in beiden Richtungen noch relativ stark. Ich lief über die Straße zum Mittelstreifen, wo ich vergeblich versuchte, ein Taxi anzuhalten.
    Der Mann kam hinter mir hergelaufen. Ich konnte mich keuchen hören und sagte mir, dass er nur ein Penner war, der es auf meine Tasche abgesehen hatte. Ich rannte durch eine Lücke im Verkehr wieder zurück auf den Gehsteig und ging in Richtung Broad Street.
    Ich warf einen Blick über die Schulter und sah, dass mir der Mann hartnäckig folgte. Er hatte die Kapuze seiner schwarzen Regenjacke tief in die Stirn gezogen, und ich konnte sein Gesicht nicht erkennen. Wo waren all die Yuppies, die in diesen Wolkenkratzerschluchten südlich der Wall Street bis tief in die Nacht hinein arbeiteten? In dem peitschenden Regen schien niemand auf die Straße gehen zu wollen.
    Ich bog um die Ecke und sah das alte Holzschild der Fraunces Tavern, an deren Fassade eine Gedenktafel verkündete, dass sich General Washington an dieser Stelle von seinen Truppen verabschiedet hatte. Ich zog ungefähr zehn Sekunden lang mit aller Kraft an der Tür, bis ich die kleine Blockschrift auf der Fensterscheibe bemerkte: MONTAGS GESCHLOSSEN.
    Ich hielt noch immer das Handy umklammert. Es war keine gute Idee gewesen, in diese kleinen, verwinkelten Nebenstraßen zu flüchten. Ich wählte den Notruf und bog im Schutz der Häuserwände um die Ecke zum Coentes Slip. Hinter mir fiel eine Mülltonne aus Metall polternd zu Boden. Ich blickte mich um und sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite, als sie auf mich zurollte. Von meinem Verfolger war nichts zu sehen, aber drei riesige Ratten stürzten sich auf den Inhalt der Tonne, deren Deckel weggeflogen war.
    Die Vermittlung fragte nach dem Grund meines Anrufs. »Ich werde verfolgt«, sagte ich, ganz außer Atem vor Angst und von der Rennerei.
    »Sie müssen langsamer sprechen, Ma’am. Ich kann Sie nicht verstehen.«
    »Es ist ein Mann –«
    »Haben Sie Asthma gesagt, Ma’am? Ich höre, dass Sie schwer atmen. Ist das ein medizinischer Notfall?«
    Wieder sah ich den Mann, als ich mich der Kreuzung Water Street und Broad Street näherte. »Nein. Ich möchte einen Streifenwagen.«
    »Sie sagen, Sie sind in einem Streifenwagen? Ich verstehe Ihr Problem nicht, Ma’am.«
    Ich lief über die Straße und trat in eine große Pfütze am Bordstein. Ich hatte schon Tausende dieser Notrufaufnahmen gehört. Vermittler hatten schon wegen fehlerhafter Reaktionen ihre Stelle verloren – indem sie beispielsweise einem Vergewaltigungsopfer, deren Lungen auf Grund von Messerstichen kollabiert waren, gesagt hatten, dass sie verdammt noch mal lauter sprechen und mit diesem blöden Gekeuche aufhören solle. Es gab aber auch wunderbar einfühlsame und einfallsreiche Reaktionen, die Leben gerettet hatten. Dieses Kommunikationsproblem war eindeutig meine Schuld.
    Ich blieb stehen und bemühte mich, deutlicher in das Telefon zu sprechen.

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