Der Leichenkeller
»Ich werde von einem Mann verfolgt. Ich brauche die Polizei.«
»Was hat Ihnen der Mann getan, Ma’am?«
Nichts, dachte ich. Gar nichts.
»Ma’am?«
Ich blickte mich erneut um und sah, wie er den Autos auswich, von deren Scheibenwischer literweise Wasser spritzte. Da ich sein Gesicht nach wie vor nicht erkennen konnte, konzentrierte ich mich auf seinen Unterleib. Er trug eine marineblaue Hose, wie sie Polizisten trugen, und die dazu passenden glänzenden schwarzen Budapester.
»Ich … ich glaube, er will mich überfallen.«
»Wo sind Sie?«
»An der Kreuzung State Street und Whitehall.«
»Bleiben Sie am Apparat! Ich schicke Ihnen jemanden hin.«
Ich lief weiter und überquerte den letzten Abschnitt des Highway. Der Schirm fiel mir aus der Hand, als ich in der Nähe der Anlegestelle der Staten-Island-Fähre über die Betonbarriere auf den Fußweg kletterte. Mein langbeiniger Verfolger setzte ebenfalls über den Betonblock; der schneidende Wind, der vom Hafen her wehte, stülpte seinen Schirm nach außen.
Das Schiff trötete laut, ich hörte das Klingeln der Bojenglöckchen und über mir das Kreischen der Möwen. Ich war seit über zwanzig Jahren nicht mehr auf der Fähre gewesen. Ich kannte mich in dem Teil der Insel, an dem sie anlegte, nicht aus, und wusste auch nicht, ob sich der frühere Fahrpreis von fünfzig Cent mittlerweile verdoppelt oder verdreifacht hatte.
Am Drehkreuz vor dem Eingang zu dem düster wirkenden Boot drängte sich eine Menschentraube in die trockene Kabine. Ich lief ebenfalls in die Richtung.
Da krachte etwas auf meine linke Schulter hinab, und ich sank mit einem Flimmern vor den Augen auf ein Knie. Ich stützte mich mit der linken Hand ab und versuchte mich aufzurichten. Der Mann in der schwarzen Regenjacke ließ seinen geschlossenen Schirm wieder auf meinen Rücken herabsausen. Ich wich seinem Schlag aus und rollte in einer kalten Pfütze ab.
Ich schrie. Es musste mich doch jemand auf dem Weg zur abfahrbereiten Fähre hören! Aber die Autohupen, die Nebelhörner, das ferne Sirenengeheul von einem, wie ich hoffte, nahenden Streifenwagen übertönten meine Schreie.
Gerade als mir der Mann mit seinem schweren Schuh in die Seite treten wollte, rappelte ich mich hoch und rannte schnurstracks auf das Boot zu. Die Stäbe des riesigen eisernen Drehkreuzes standen mir im Weg. Man konnte nicht darunter hindurchkriechen, also schwang ich mich über die Stange auf die andere Seite. Wieder ging der Mann auf mich los; noch im Drehen winkelte ich mein rechtes Bein an und trat ihm so fest ich konnte in den Magen. Er schrie auf und taumelte ein paar Schritte nach hinten.
Jetzt blieben die Leute stehen. Mit meinen nassen, verklumpten Haaren und den schlammigen, durchnässten Klamotten musste ich einen ziemlich derangierten Eindruck machen. Ich war über das Drehkreuz gesprungen und hatte einem Fremden scheinbar grundlos in die Eingeweide getreten.
Ich lief an den Schaulustigen vorbei. Ein Mann in einer braunen Uniform mit dem Logo der New Yorker Verkehrsbehörde auf der Jacke streckte die Hand nach mir aus. Ich schrie ihn an, mir aus dem Weg zu gehen, schubste ihn mit beiden Händen gegen eine Säule und sprang gerade noch rechtzeitig auf die Fähre, bevor die Gangway weggezogen wurde. Zehn Meter entfernt hielt ein Polizeiauto an der Stelle, wo ich die Straße überquert hatte.
Ein anderer Wächter der Verkehrsbehörde packte mich unsanft an der Schulter, und ich verzog vor Schmerzen das Gesicht. »Nun mal langsam, gute Frau. Beruhigen Sie sich«, befahl er. »Jetzt wird nicht mehr getreten und geschubst. Sie sind verhaftet.«
24
Ich war wahrscheinlich die glücklichste Gefangene aller Zeiten.
»Ich habe das Geld für die Fahrkarte«, sagte ich dem Beamten, obwohl ich wusste, dass er diese Story wahrscheinlich jeden Tag zu hören bekam.
»Die Fahrt ist umsonst, Lady. Das ist nicht das Problem.«
»Nein, nein. Ich meine, ich weiß, dass ich über –«
»Sie sind wohl seit 1997 nicht mehr an Bord gewesen. Es gibt keine Fahrmünzen mehr. Sie sind nicht in Schwierigkeiten, weil Sie schwarzfahren wollten.«
Es war mir egal, dass ich grundlos Handschellen angelegt bekam, solange ich in den sicheren Händen von PO Guido Cappetti war.
»Angriff auf einen Peace Officer«, sagte er zu mir. »Ich habe gesehen, wie Sie ihn weggeschubst haben.«
»Das bestreite ich ja gar nicht«, sagte ich. »Aber ich habe das nur getan, weil ich von einem Mann verfolgt und angegriffen worden
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