Der leiseste Verdacht
ihr nicht. Ihre Welt war ins Wanken geraten, und fast glaubte sie zu hören, wie es in den Fugen knarrte und ächzte. War es so, wenn man die Kontrolle über sein Leben verlor? Durch ihren Kopf rauschte eine Abfolge absurder Bilder: Axel Hemberg trieb friedvoll und mit einem satanischen Lächeln auf den Lippen in der Jauchegrube des Nachbarn. Patrik in den Armen einer jungen, blühenden Frau, die im nächsten Augenblick eine Leiche war … Patrik, wie von Sinnen, schließt seine Hände um ihren Hals … Patrik schleppt Axels Leiche – Marika!, schoss es ihr durch den Kopf. Sie sah ihre Tochter vor sich, in Tränen aufgelöst und am Boden zerstört. Dann folgten fragmentarische Bilder von Freunden und Verwandten in wechselnden Schockzuständen. Patrik, ausgebrannt und apathisch, huschte an ihr vorbei, zuerst als Angeklagter in einem Gerichtssaal, dann hinter Gittern. Seine Frau nur mehr ein Schatten ihrer selbst, ausgezehrt von Trauer und Einsamkeit. Tränen standen ihr in den Augen, und fast hätte sie Patrik nachgegeben, als dieser die Hand ausstreckte, um ihre Wange zu streicheln. Doch plötzlich schlug ihre Verzweiflung in Raserei um.
117
»Rühr mich nicht an!«, schrie sie und warf ihm die Zeitung ins Gesicht. Er zog sich rasch in seine Sofaecke zurück und wappnete sich gegen den Sturm, der über ihn hereinbrach. Sie sprang auf und stand ihm plötzlich mit geballten Fäusten gegenüber. Zwischen ihnen befand sich der Couchtisch mit den vergessenen Kaffeetassen. Für einen Augenblick war ihr danach, ihn einfach umzuwerfen, doch sie beherrschte sich. Patrik tat das, wenn seine Wut einen gewissen Punkt überschritten hatte, doch sie selbst hatte zu ihrem Zorn immer eine gewisse Distanz bewahrt. Sie hatte ihm die Zeitung ins Gesicht gepfeffert, das sollte genügen. Doch verbal würde sie nicht davor zurückschrecken, ihn auseinander zu nehmen. Gefasst, wohl wissend, dass ihn dies mehr treffen würde als wüste Beschimpfungen, sagte sie: »Du feiges Schwein.«
Er nickte stumm und starrte auf seine angezogenen Knie.
»Ich habe wirklich nicht geglaubt, dass du so unreif bist«, fuhr sie mit mühsam beherrschter Stimme fort. »Dass du dich voll laufen lassen musst, um deine verborgenen Triebe auszuleben.
Wenn du zumindest dir selbst eingestanden hättest, dass du einfach Lust hattest, mit einer anderen Frau zu schlafen, wäre es etwas weniger schlimm. Wärst du hinterher zu mir gekommen und hättest mir davon erzählt, hätte ich darunter gelitten, aber das Problem wäre nicht unüberwindlich gewesen. So etwas gibt es eben, hat es immer gegeben. Aber jetzt verabscheue ich dich.
Dein so genanntes Geständnis ist jämmerlich und peinlich, weil es keine Spur freiwillig ist. Die Umstände haben dich gezwungen, vor mir zu Kreuze zu kriechen.«
Sie sah, wie er sich duckte unter ihrer Verachtung. Aber sie war noch nicht fertig mit ihm. Ihre Wut kochte über. Sie verlor die Kontrolle über ihre Stimme, die sich zitternd überschlug, doch das war ihr jetzt egal.
»Früher warst du mutiger und ehrlicher. Da hast du mich jedenfalls mit vollem Bewusstsein betrogen. Doch jetzt, wo du alt und weise geworden bist, ist es dir offenbar unangenehm, 118
wenn du deinen Trieben nachgibst. Da ziehst du es vor, dich um den Verstand zu saufen, damit du für deine Eskapaden keine Verantwortung mehr übernehmen musst.«
Er hob den Kopf und wollte etwas sagen, aber sie ließ es nicht zu.
»Halt den Mund und lass mich ausreden!«, schrie sie. »Im Herbst, als du vor Wut über Axel und die Ungerechtigkeit der Welt völlig außer dir warst, als du überall herumgerast bist, um ihn zu finden, bist du nie auf den Gedanken gekommen, dass es noch jemanden geben könnte, der leidet. Deine Egozentrik schlug alle Rekorde, so übel hatte man dir mitgespielt. Ich kann dir versichern, dass das Zusammenleben mit dir unerträglich war. Marika wollte nicht mal mehr nach Hause kommen, und in den Weihnachtsferien habe ich sie nur hierher locken können, weil ich ihr gesagt habe, dass du wieder einigermaßen menschliche Züge angenommen hast. Ich habe diese Zeit nur durchgestanden, weil ich mir stets einredete, dass alles ja irgendwann ein Ende haben müsse. Doch jetzt sehe ich, dass das Gegenteil der Fall ist. Die Krise im Herbst war nur ein Vorspiel auf die Katastrophe, die jetzt kommt. Aber ich kann nicht mehr!
Ich habe genug!«
Sie machte auf dem Absatz kehrt und stürzte ins Schlafzimmer, dessen Tür sie demonstrativ hinter sich abschloss.
Weitere Kostenlose Bücher