Der letzte Agent
töten? Sie waren in heller Panik. Da nichts so diszipliniert verlief wie in alten Tagen, sind mindestens zehn von ihnen hierher gekommen, um hektisch nach Schulze zu suchen. Heimlich. Bei Selma Schulze werden es also die Todesboten aus der alten DDR gewesen sein.«
»Aber wieso wurde Selma Schulze auch mit dem Plastikmaterial getötet?«
»Wir stellen uns die Sache so vor: Sie schickten Trupps von zwei oder drei Leuten nach Düsseldorf, um systematisch nach Schulze zu suchen. Sie konnten sich wahrscheinlich nicht vorstellen, dass Schulze so ein eiskalter Profi war, dass selbst seine Frau nicht einmal etwas ahnte. Sie brachen also in den Keller ein, kamen hoch in das Erdgeschoss und standen plötzlich vor der Frau. Weil sie nicht riskieren konnten, identifiziert zu werden, schossen sie.«
»Und Harry Lippelt, warum ausgerechnet der? Kannte der den Hintergrund?«
»Nein, vermutlich nicht. Aber das war wieder Vera Grenzow. Sie ist ausgeflippt, verstehen Sie? Richtig verrückt geworden. Sie muss gedacht haben, dass Lippelt für sie eine Bedrohung ist.«
»Und wer hat dann die Grenzow erschossen?«
»Boten aus Chemnitz«, murmelte er. »Boten.«
»Was bitte soll das heißen? Soll ich raten?«
»Wenn ich richtig verstanden habe, dann sind Sie es doch gewesen, der Jendra schachmatt setzte. Jendra hat das erledigt.«
»Das Frettchen also! Wurde er von Dr. Bleibe geschickt?«, fragte ich schnell.
Er drehte sich auf die Seite und stützte seinen Kopf in die Handfläche. »Das mag schon sein«, sagte er plötzlich ruhiger. »Aber beweisen Sie das mal.«
Jemand klopfte an die Tür. Einer der Männer kam schweigend mit einem Tablett herein und stellte es auf dem Tischchen ab. Er ging sofort wieder. Marga stand auf und goss Sauter eine Tasse voll Tee, tat Zucker hinein, rührte um und brachte sie ihm dann. »Mach langsam«, sagte sie zärtlich.
»Na ja«, sagte ich, »Bleibe war der größte Nutznießer der Erkenntnisse, die der kleine Ring lieferte. Also muss der Mörder von Bleibe geschickt worden sein.«
Er starrte irgendwohin, dabei neigte sich die Tasse in seiner Hand, und etwas Tee floss auf die Decke. Er zuckte zusammen. »Sie haben etwas immer noch nicht verstanden, Baumeister«, sagte er fast freundlich. »Der Spionagering war eine Erfindung des Dr. Helmut Kanter.«
»Wie bitte? Wollen Sie etwa sagen, dass …«
»Richtig.« Er nickte. »Kanter hat sich die Truppe ins Haus geholt. Gezielt. Es war eine brillante Idee.«
10. Kapitel
Moment mal«, schaltete Marga sich ein, »das ist doch völlig irre. Kanter holte sich Spione für die DDR ins Haus?«
Sauter lächelte müde. »Ich war dabei, ich habe zugesehen, wie es sich entwickelte. Kleine Mädchen für ihn, Schmuck für die Frau, Eisschrank, Fernseher, Tiefkühltruhe. Sie verabredeten zunächst ganz normale Geschäfte. Die Geschäfte, die ihnen persönlich wirklich Geld brachten, die konnten sie nicht abschließen. Die DDR-Mark taugte nichts, oder die DDR konnte bestimmte Dinge nicht liefern, oder in der Bundesrepublik waren sie zu teuer. Aber wissenschaftliches Know-how, das konnte man vergolden. Und zwar jeweils dort, wo es gebraucht wurde. Die DDR-Leute hatten eine Idee, aber keine Möglichkeit, die Maschine zu bauen, die dazu gebraucht wurde, um diese Idee umzusetzen. Dann wurde entweder die Maschine hier gebaut und rübergeschafft, oder aber die Idee war plötzlich Kanters Idee und ließ sich weltweit in Bargeld umsetzen. Aber das war unheimlich gefährlich. Denn irgendjemand konnte ja auf die innige Verbindung der beiden stoßen. Also haben sie beschlossen, dass die DDR einen Spionagering bei Kanter installiert …«
»Und Grenzow, Sahmer und Schulze hatten keine Ahnung«, begriff ich aufgeregt.
»Richtig«, nickte er. »Sie wurden von Beginn an benutzt. Der Weg war so, dass Bleibe nach einer Konferenz mit Kanter diesem Volker sagte: ›Ich brauche dringend Kenntnisse über zum Beispiel eine bestimmte Kunststoffmasse.‹ Volker instruierte den Spionagering, der dann den Auftrag erledigte. Auf diese Weise konnten weder Kanter noch Bleibe in Gefahr geraten. Alles lief wie am Schnürchen. Wenn Bleibes Leute irgendeine interessante technische Neuerung erfanden, gaben sie sie Volker, der sie wiederum an den Ring weitergab. Auf diese Weise stieg Kanters Ansehen im Konzern. Und Bleibe bekam von Honecker einen Orden nach dem anderen. Dann kamen sie auf die Idee, fremde Märkte anzuzapfen. Dabei arbeitete wechselweise Kanter für Bleibe oder Bleibe für
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