Der letzte Aufguss
Ideogramme zu finden. Die vierte Schale
erregt einen leichten Schweià â alles Schlechte des Lebens schwindet durch
meine Poren dahin. Bei der fünften Schale bin ich geläutert, und die sechste
ruft mich ins Reich des Unvergänglichen. Die siebte Schale â ah, aber ich kann
nicht weitertrinken. Ich fühle nur den kalten Windhauch, der sich in meinen
Ãrmeln fängt. Der HÅrai-San, wo liegt er? Lasst mich mit diesem lieblichen
Windhauch segeln und dorthin schweben.«
Pit ging alles noch mal im Kopf durch und versuchte, dabei nicht vom
Boot zu fallen, obwohl der glatte Holzboden, auf dem er stand, durch die von
der Stange spritzenden Wassertropfen immer glitschiger wurde. »Die sechste
Schale ruft mich ins Reich des Unvergänglichen? Des Ewigen also. Was ist damit
gemeint? Der Tod? Nur der währt schlieÃlich ewig. Und Magenschmerzen nach einem
Besuch bei Mannis Bulettenschmiede.«
Kokushi lieà eine Hand ins Wasser gleiten, sodass sich die kleinen
Wellen daran brachen. »Das Nichts ist unvergänglich. Und unvorstellbar. Schauen
Sie sich diesen Fluss an. Undenkbar, dass er einmal nicht mehr da sein wird.
Doch irgendwann wird das geschehen, nur die Zeit flieÃt immer weiter. Nicht das
Wasser.«
Ein leichter Wind kam auf und lieà den Stechkahn noch mehr
schwanken. Pit hatte keine Lust auf esoterisches Gebrabbel. »Alles schön und
gut, aber was kann die Schale mit dem Mord an den Professoren zu tun haben?«
Kokushi zuckte mit den Schultern und zeigte auf einen Vogel am
Himmel. Als würde das irgendetwas erklären. Das machte Pit richtig sauer. »Finden
Sie nicht, dass es ein wahnsinniger Zufall ist, dass Sie ausgerechnet jetzt
hier auftauchen?«
»Jonathan Cleesewood hat mich kurz vor seinem Tod informiert, dass
er ein wichtiges Forschungsprojekt abgeschlossen hat, welches die Welt der
teuren Tees auf den Kopf stellen würde. Damit kann eigentlich nur Matcha-Tee
gemeint sein oder alter Pu-Erh. Er wollte mir seine Ergebnisse als Erstem
zeigen und meinte, durch sie würde ein Skandal aufgedeckt werden. Jonathan
nannte das Projekt âºDie sechste Schaleâ¹.«
»Verarschen Sie mich nicht. Warum sind Sie gerade jetzt hier? Sie hätten ja auch früher kommen können. Immerhin
ist er schon eine ganze Weile unter der Erde.«
Kokushi zog die Hand aus dem Wasser und trocknete sie sorgfältig an
einem Taschentuch. »Meine Zeit lieà es vorher nicht zu. Erst jetzt kam ich
dazu, beim Master des St Johnʼs College vorzusprechen und um Einsicht in die
Forschungsergebnisse zu bitten. Was er leider verweigert hat. Ein dummer,
eingebildeter Mann. Keine ungewöhnliche Kombination. Zudem ein Mann, der Angst
vor der Wahrheit hat und damit die Lüge heranzüchtet.«
Pit stakte weiter, allmählich bekam er Gefallen daran. Auch wenn ihm
ein Lenkrad und Ledersitze lieber gewesen wären.
»Wie könnte Cleesewoods Projekt ausgesehen haben? Da haben Sie doch
sicher eine Vorstellung.«
»Ich weià nur von einem anderen Forschungsprojekt. Vielleicht
standen sie in Beziehung zueinander. Jonathan hat mit einigen deutschen
Wissenschaftlern zum Thema Alzheimer-Demenz gearbeitet â gegen die es bislang
keine wirksame Therapie gibt. Mit einem Bestandteil des grünen Tees, einem
Polyphenol namens Epigallocatechingallat, in Kombination mit Laserlicht im
nahen Infrarotbereich kann der Abbau sogenannter Beta-Amyloid-Plaques in
Nervenzellen bewerkstelligt werden. Diese Verklumpungen spielen bei der
Entstehung der Erkrankung und der Schädigung der Nervenzellen eine wichtige Rolle.«
»Aber warum sollte dafür jemand morden? Vor allem, wenn deutsche
Forscher daran beteiligt sind? Die müssten dann ja auch aus dem Weg geräumt
werden, wenn man die Ergebnisse für sich haben will.« Ihm kam ein Gedanke. »Es
sei denn, die Deutschen wollten jemanden loswerden, mit dem sie den Erfolg
teilen müssten â¦Â«
Kokushi zog sich Jacke, Hemd und T-Shirt aus, danach Hose und
Shorts, bis er nackt im Stechkahn saÃ. Währenddessen erzählte er seelenruhig
weiter. »Dazu kann ich nichts sagen. Ich sehe auch nicht den Zusammenhang mit
der sechsten Schale. Unvergänglichkeit und Vergessen sind zweierlei.« Er sprang
ins kühle Wasser des Cam und schwamm kraftvoll um den Kahn.
»Sie haben doch gesagt, dass Sie nicht schwimmen können!«
»Ich bevorzuge es, von anderen unterschätzt zu
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