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Der letzte Aufguss

Der letzte Aufguss

Titel: Der letzte Aufguss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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werden.« Kokushi
begann mit Rückenkraulen – ein Anblick, auf den Pit wegen dessen Nackheit gerne
verzichtet hätte –, rieb sich nach kurzer Zeit allerdings über den Bauch. »Schwimmen
macht hungrig. Sie sehen aus wie ein Mann, der weiß, wo man in dieser Stadt ein
gutes, blutiges Steak essen kann. Ich bin es so leid, ständig Reis vorgesetzt
zu bekommen.«
    Mit einem Mal war dieser kleine Asiate Pit enorm sympathisch. Und
wenn ein Mann ein gutes, blutiges Steak wollte, dann sollte er eines bekommen.
    Ein leises Klopfen ertönte von der Tür zu Bietigheims Büro. Der
Professor blickte kurz auf, setzte die Lesebrille ab, justierte den Sitz seiner
Fliege nach und rief: »Herein!«
    Jancis Robinsons Kopf schob sich zögerlich in die Türöffnung. »Darf
ich stören?«
    Â»Das tun Sie bereits, und Sie dürfen damit fortfahren, falls es
nicht zu lange dauert.« Er nickte ihr aufmunternd zu, während sie ins Zimmer
trat.
    Â»Es geht um den Auftrag, den Sie der Port Wine Society erteilt
haben. Aber erst wollte ich Sie etwas fragen.«
    Â»Sie möchten wissen, ob ich Michael gefunden habe.«
    Jancis nickte – und ihre Wangen erröteten leicht.
    Â»Weil Sie sich um Ihren Stellvertretenden Vorsitzenden sorgen. Sie
alle, meine ich, die ganze Society.«
    Â»So ist es«, sagte Jancis erleichtert.
    Â»Er ist bei mir, und es geht ihm gut. Ich werde ihm sagen, dass Sie
sich nach seinem Befinden erkundigt haben. Das wird ihn sicherlich sehr freuen …«
    Jancis lächelte und setzte sich. »Aber eigentlich bin ich wegen Dame
Wenbosca und ihrem Mann hier.«
    Â»Ich bin ganz Ohr.«
    Â»Joel, der den Mann von Dame Wenbosca, Godehard, durchleuchten
sollte, hat erfahren, dass die beiden eine Teepräsentation im Londoner The
Dorchester geben wollten. Also sind wir hin. Die Gäste waren extrem hochrangig
und die Wenboscas unglaublich souverän.« Jancis legte ihm die offizielle
Einladung auf den Schreibtisch.
    Â»So weit, so erwartbar.«
    Â»Ja, aber danach passierte etwas Unerwartetes. Bei der Veranstaltung
waren sie ein Herz und eine Seele, scherzten miteinander, warfen sich Blicke zu – aber danach trennten sich ihre Wege sofort. Und zwar ohne eine Umarmung oder
einen Kuss zum Abschied. Godehard klapperte anschließend die besten Teehändler
Londons ab auf der Suche nach seltenen Pu-Erhs. Dame Julia dagegen fuhr nach … Cambridge.«
    Â»Oha.«
    Â»Vorher hat sie noch Blumen gekauft, einen großen Strauß
langstieliger roter Rosen. Doch wir haben sie an der Stadtgrenze verloren.«
    Â»Vielleicht wollte sie zu Verwandten oder Freunden? Jemanden im
Krankenhaus besuchen?«
    Jancis schüttelte entschieden den Kopf. »Mit roten Rosen? Das glaube
ich kaum, außerdem habe ich sie schon eine Dreiviertelstunde später wieder aus
Cambridge hinausfahren sehen. Der Strauß war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in
ihrem Wagen. Wenn man jemanden besucht, bleibt man doch wohl länger.«
    Â»Erst recht, wenn man zu jemandem geht, für den man rote Rosen
kauft.«
    Â»Darauf habe ich leider auch keine Antwort.«
    Â»Trotzdem danke. Wir werden sehen, wann es Zeit ist, Dame Wenboscas
Geheimnis zu lüften. Ich behalte es im Hinterkopf.« Aber zurzeit, dachte
Bietigheim, gab es Wichtigeres als rote Rosen.
    Â»Die anderen aus unserer Society haben noch nichts Neues
herausgefunden. Von unserem Vorsitzenden Robert Parker soll ich Ihnen
ausrichten, dass wir dranbleiben und für Sie da sind.« Sie stand auf und ging
zur Tür. Bevor sie das Büro verließ, drehte sie sich ein letztes Mal um. »Sagen
Sie Michael, er soll sich bei mir melden. Wir müssen miteinander reden. Das
hätten wir schon längst tun sollen.«
    Â»Das«, sagte Bietigheim, »hätten Sie tatsächlich. Doch es ist nie zu
spät für richtige Entscheidungen.«
    Es gibt Tage, an deren Beginn der wache Geist bereits ahnt, dass
Unheil droht. Andere Tage verstellen sich und tun so, als wäre alles wie immer.
Die Welt dreht sich stetig weiter, scheinen sie zu sagen, egal was passiert.
Und wenn man nur genug Distanz gewinnt, wird sowieso alles klein und unwichtig.
    Der Dienstag, der nun in Cambridge anbrach, war ein solcher Lügner.
So schnell, als wollte er sein Pensum fix hinter sich bringen, prasselte der
Regen auf das erwachende Cambridge, auf die Dächer, unter denen schon der
Morgentee geschlürft

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