Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Aufguss

Der letzte Aufguss

Titel: Der letzte Aufguss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
Vom Netzwerk:
und die Zeitung des Tages studiert wurde.
    Auch Adalbert Bietigheim gab sich diesen Tätigkeiten hin, während
der Regen unentwegt gegen die Fensterscheibe klopfte. Dazu aß der Professor
heißen Porridge mit Zucker und Erdbeermarmelade. Eine Schüssel davon, und er
brauchte den ganzen Tag nichts anderes mehr zu essen. Für Pit, der so
herausragende Arbeit beim Teemeister geleistet hatte, gab es Baked Beans,
Würstchen und Bacon. Kokushi würde sicher dasselbe nehmen. Letzterer hatte sich
einquartiert, nachdem er erfuhr, dass hier die Unterlagen von Bietigheims
Vorgänger zu finden waren, und hatte diese dann bis spät in die Nacht
durchsucht. Bewacht von Benno.
    Der letzte Übernachtungsgast, Michael Broadbent, würde Toast mit
Fruchtmarmelade erhalten. Diesen Wunsch hatte er gestern Abend geäußert, bevor
er in seine Studentenbude gegangen war, um schnell das Wichtigste für die Nacht
zu holen. Er wollte ein wenig Abstand von dort haben. Bietigheim hatte keine Ahnung,
wann er zurückgekehrt war. Platz war im Haus auf jeden Fall genug, und auf
diese Weise hatte Bietigheim es nicht weit zu seinen Verdächtigen.
    Allerdings kam er nicht dazu, mit ihnen zu frühstücken, denn das
Telefon klingelte. Es war schrecklich in diesem Haus! Die ganze Welt schien
seine Nummer zu haben. Und er verfügte über keinen Butler, der die Gespräche
annehmen konnte. Dabei hätte er so gut ins Haus gepasst.
    Bietigheim setzte die Tasse ab, kaute in aller Ruhe fertig und ging
dann langsamen Schrittes zum Lärmverursacher und hob ab. Der Anruf war nicht
für ihn, sondern für Pit, und zwar von Auntieʼs Tea House. Er solle ganz
schnell kommen, der Laden sei brechend voll, denn bei Great St Maryʼs sei
gerade eine Leiche gefunden worden.
    Wenige Sekunden später saß Bietigheim auf seinem Fahrrad – er hatte
sich nicht einmal die Zeit genommen, die Hosenklammern anzulegen – und trat mit
einer Kraft in die Pedalen, als ginge es den Mont Ventoux empor. Er brauchte
nicht lang bis zur Kirche, stellte sein Fahrrad ab, ohne es abzuschließen, und
verschaffte sich mit einem vorgetäuschten asthmatischen Anfall einen Weg durch
die Menschenmasse. So brachte er es bis zur polizeilichen Absperrung.
    Auf den ersten Blick hätte man denken können, ein Penner liege auf
dem Rasen von Great St Maryʼs und mache ein Nickerchen. Doch es war nur eine
Frage der Perspektive, dann sah es völlig anders aus. Arme und Beine standen
grotesk ab. Das Gesicht hatte den Aufprall etwas abgefangen, doch es war noch
genug zu erkennen, dass man für die Identifizierung keine Röntgenaufnahmen des
Zahnarztes würde konsultieren müssen.
    Es war Michael Broadbent. Er war vom Glockenturm der Kirche Great St
Maryʼs gefallen.
    Oder gesprungen.
    Oder gesprungen worden.
    Bietigheim wurde schummrig. Hätte er Michael besser in Kew Gardens
lassen sollen? Doch der junge Student hatte auf der gemeinsamen Rückfahrt
keinerlei Selbstmordgedanken geäußert, ja, er war sogar guter Laune gewesen,
erleichtert, dass die Wahrheit endlich raus war und Bietigheim an seiner Seite
stand. War das alles etwa nur Schauspiel gewesen? Oder hatte jemand in
Cambridge auf Michael gewartet? Und hatte er, Adalbert Bietigheim, ihn auf die
Schlachtbank geführt, indem er ihn zurück in die Stadt brachte?
    Plötzlich hörte er, wie durch die Menge ein Wispern ging. Es dauerte
eine Weile, bis sich die Worte verdichteten und bei ihm die Botschaft ankam:
Man hatte einen Abschiedsbrief gefunden.
    Der alles erklärte.

KAPITEL
6

    Die sechste Schale
    Â»Lassen Sie mich durch, ich bin Professor!«, rief Bietigheim einem
nahe stehenden Polizisten zu. Doch selbst in der Universitätsstadt Cambridge
wirkte das nicht immer. Er konnte nur zusehen, wie Michaels Leiche in einen
schwarzen Sack gesteckt und der Reißverschluss über seinem leblosen Körper
zugezogen wurde.
    Bietigheim blieb nichts anderes übrig, als wieder nach Hause zu
radeln. Zuerst fluchend und schnell, doch mit der Zeit immer langsamer, denn es
drängten sich ihm eine ganze Menge Fragen auf. Wie sollte er an den
Abschiedsbrief von Michael kommen? Würde die Polizei ihn veröffentlichen? Warum
hatte der Student eine so komplizierte Variante des Selbstmords gewählt? Warum
sollte er von einem Gebäude springen, zu dem er keinen Schlüssel besaß und bei
dem man für den Todessprung noch dazu über einen

Weitere Kostenlose Bücher