Der letzte Aufstand
Unbekannte würden mit ihm in den Tod stürzen. Wenigstens ging er nicht alleine über die Schwelle, tröstete er sich selbst.
Niemand beachtete ihn auf der Brücke. Er war einfach ein Passant mit einer Ketchup-Schachtel. In der Mitte angekommen fand er tatsächlich eine Dole mit einem schweren Stahldeckel.
Wie um Himmels Willen würde er den Deckel heben können? Wie würde er die Bombe in die Dole positionieren können, wenn er den Dolendeckel nicht hieven konnte? Kurz überkam ihn Verzweiflung. Hatte Gott ihn verlassen? Musste er hier eine letzte Lektion bestehen, bevor er sein Lebenswerk vollenden durfte?
Tom kniete sich neben der Dole nieder. Jetzt fiel er auf, aber das musste sein. Er versuchte den Deckel mit seinem Zeigefinger, den er in das Loch in der Mitte schob anzuheben. Das Stahlteil machte keinen Wank. Tom bäumte sich auf. Er legte all seine Kraft in die ziehende Bewegung, aber ohne Hebelwirkung würde er den Deckel nicht anheben können, stellte er schnell fest.
Verdammt, fluchte er. Die Bombe musste in die Dole, sonst verpuffte der grösste Teil der Explosionskraft in der Luft und alles, was er erreichen würde, wäre nicht der Erwähnung wert, würde es vielleicht nicht einmal in die Abendnachrichten schaffen. Allein der Gedanke daran, derart versagen zu müssen, brachte ihn in Rage.
Der Stau rollte in Intervallen an ihm vorbei. Die Autos blieben stehen, rollten wieder einen Meter und blieben wieder stehen. Verzweifelt blickte Tom um sich. Wo war die Lösung? Gott stellte ihm bestimmt kein unlösbares Rätsel. Er musste flexibel sein, breiter denken, unkonventionelle Lösungen erwägen. Aber was? Wie?
☸
Brüssel, 6 Tage nach „Tag X“
Noch war der Kombi nirgends zu sehen. Yeva stand an einer Busstation, als warte sie nach einem langen Arbeitstag auf ihre Heimreise. Der Begleiter steckte ihr unauffällig hinter dem Ohr.
„Es ist jetzt genau 17.35. Er müsste jeden Moment eintreffen. Danielle hat gerade einen letzten Scan durchgeführt. Er wird vor einem Friseur parkieren.“, hörte sie Luc im Kommunikationsgerät. Er sprach nüchtern und sachlich, wie immer.
Guillaume blickte sich um.
„Ich sehe ihn. Er steht vor einer roten Ampel, müsste jeden Moment in die Houba de Strooperlaan einbiegen. Ich gehe jetzt langsam dem Coiffeurgeschäft entgegen.“
Er hatte sich am Anfang der Strasse positioniert, um den ankommenden Verkehr gut beobachten zu können. Es knackte kurz im Begleiter.
„Wir sind hier. Entschuldigung für die Verspätung. Wir hatten noch eine Sitzung mit den anderen C-Teams hier.“, hörte man Lea sagen.
„Ihr seid rechtzeitig, macht euch keine Sorgen. Er kommt soeben an und biegt jetzt in die Houba de Strooperlaan ein.“, sagte Guillaume.
„Wir sehen den Wagen.“, bestätigte Luc.
Die Minikameras der Begleiter übertrugen die Bilder schnell und sicher an den Rest des Wachholder-Teams. In der Nähe von Yevas Bushaltestelle hielt Tom den Wagen an und parkierte ihn im Rückwärtsgang geschickt in eine kleine Lücke, genau vor dem Friseursalon.
Sechs Augenpaare beobachteten ihn, wie er die Fahrertür öffnete und sich kurz umsah. Dann schien er zu zögern. Er schaute nervös von links nach rechts und wieder zurück. Schliesslich tat er zwei Schritte auf das Schaufenster des Friseursalons zu. Er betrachtete sich in einem Spiegel, fuhr sich mit den Händen durch die Haare.
„Was tut er?“, fragte Lea. „Will er sicher stellen, dass er gut aussieht, bevor er seinen Anschlag begeht?“
„Nein, ich glaube er spricht wieder mit seinen Zähnen, genau wie bei sich zuhause im Badezimmer.“, sagte Luc.
Plötzlich stieg Tom wieder in den Wagen. Yeva richtete ihren Blick auf die Frontscheibe des Kombis, so dass die Kamera erfassen konnte, was er tat. Luc erhöhte die Auflösung und zoomte ein.
„Er spricht mit seinen Zähnen und er weint ...“, sagte Luc.
„Wieso weint er? Hat er Skrupel? Das würde nicht wirklich zu der Weltanschauung der anderen hier passen.“, meinte Lea.
„Guillaume, du musst langsamer gehen.“, sagte Yeva.
„Ich überquere die Strasse, das schindet Zeit.“, kam die Antwort. Yevas Kamera übertrug nun Bilder, die zeigten wie Tom wild auf das Lenkrad einschlug.
„Etwas stimmt hier nicht! Das hat er noch nie getan. Er müsste das Fahrrad bereits aus dem Kofferraum genommen haben.“, sagte Luc. Er klang nicht mehr ganz so nüchtern und sachlich.
Zehn Sekunden später drehte Tom den Zündschlüssel und der Motor sprang an.
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