Der letzte Aufstand
lautstark an ihm vorbei. So konnte er sich nicht konzentrieren.
Kurzerhand stieg Tom wieder in den Kombi ein. Draussen war es zu laut; der Rückspiegel würde jetzt bessere Dienste leisten, als der Spiegel im Schaufenster. Er hielt seinen Kiefer nah an das reflektierende Silber. Was wollt ihr mir sagen, fragte er still. Meine Lieben, meine Treuen, was ist eure Nachricht?
Dann sah er die Antwort. Es war Feierabendverkehr in der belgischen Hauptstadt. Die Brücke über die Senne in der Stadtmitte war voll von Fussgängern, Autos, Velofahrern. Wollten die Zähne tatsächlich eine letzte Änderung vornehmen? Erneut blitzte vor seinem inneren Auge das Bild der Brücke auf, aber diesmal war es eine Brücke in Paris. Tom wurde unsicher. Er musste genauer hin hören, hin sehen. Das Bild vor seinem inneren Auge wurde konturierter. Dann sah er es deutlich. Es war die Pont Neuf in Paris, eine Brücke mitten im Herzen der französischen Grossstadt.
Aber was ist mit all meinen Freunden, die ich an das Spiel eingeladen habe? Was mit meinem Chef und meinen Arbeitskollegen? Doch die Zähne sprachen eine deutliche Sprache. Tom heulte auf. Nein, keuchte er. Nein, nein, nein! Er klopfte empört auf das Lenkrad. Noch einmal blickte er sich im Rückspiegel an. Der Anblick war wie eine klaffende Wunde, sein Blick wie die darin herum kratzende Hand.
Er hörte nur drei Worte, die direkt aus seinem Mund zu kommen schienen. Pont Neuf Paris!
Mit Tränen in den Augen warf er den Motor an. Seine Zähne sprachen weiter, gaben ihm Anweisungen. Er würde alleine sterben, ohne seine Freunde, ohne seinen Chef. Tom weinte den ganzen Weg, bis er auf der Autobahn war. Dort angekommen verfiel er in eine Art hypnotischen Zustand. Er drückte das Gaspedal durch und fuhr die dreihundert Kilometer nach Paris auf der Überholspur. Sein Denken war wie ausgeschaltet, sein Körper nur noch eine Ansammlung von Fahrreflexen.
Auf der Peripherie in Paris angekommen, kam er wieder zu sich. Warum liessen ihn seine Zähne, die Repräsentanten Gottes, nicht wenigstens in seiner Heimatstadt sterben? Wieso musste er in Paris sein Leben lassen? War es vielleicht, weil ihm die Einsicht in Paris gekommen war, weil dort alles seinen Lauf genommen hatte?
Erneut begannen Tränen seine Wangen herunter zu purzeln. Tom fühlte sich einsam. Doch er war stark. Es war nicht sein Wille, um den es ging. Es war der Wille der Vorsehung.
Sein Navigations-Gerät führte ihn sicher in die Stadtmitte. Er parkierte den Wagen unterhalb der Pont Neuf auf offener Strasse. Um einen Strafzettel musste er sich ja garantiert keine Sorgen machen. Sollte die Polizei doch sein Grab damit schmücken.
Hinter ihm begannen andere Autos zu hupen. Tom öffnete die Hintertür, nahm die Ketchup-Schachtel heraus und ging die Treppe hoch, die auf die Brücke hinauf führte. Eine dicke Frau, die ihm im Weg stand, schubste er mit seiner Hüfte so grob zur Seite, dass sie die Treppe einige Stufen hinunter fiel. Sie schrie auf, aber das kümmerte ihn nicht der Spur nach. Sie würde nicht die Einzige sein, die heute Schmerzen leiden würde. Dann war er oben.
Er musste in die Mitte der Brücke. Die Schachtel musste in eine Dole, damit sie die Brücke zum Einstürzen brachte. Die Zähne gaben klare Anweisungen. Auf der Brücke gab es immer noch Stau, obwohl der Feierabendverkehr schon vorüber hätte sein müssen. Aber vielleicht endet der Verkehrsstau in einer Stadt wie Paris nie wirklich. Von beiden Seiten der Stadt her gab es ein Lichtermeer von Scheinwerfern. Es war am Eindunkeln, weshalb noch nicht ganz alle Autofahrer die Lichter eingeschaltet hatten; das führte zu kurzen Unterbrechungen in der Lichterkette.
Das Wasser der Seine spiegelte die Lichter wider. Der Tod würde kalt und nass werden, dachte Tom, als er die Wassermassen unter sich vorbei ziehen sah. Er musste wieder an das Stadion denken, an all seine Freunde, die jetzt fröhlich in ihren Sitzen sassen und darauf warteten, dass der Halbfinal abgepfiffen würde. Wer hatte gewonnen? Hatten sie ihn vermisst? Wussten sie, dass ihr Schicksal heute Abend eine unglaubliche Wende genommen hatte? Dass sie den morgigen Tag erleben würden, obwohl er sie alle so sehr auf seine Reise hatte mitnehmen wollen? Eine Träne kollerte ihm die Wange hinab. Wieso war es ihm nicht vergönnt mit seinen Freunden zu sterben? Tom blickte in das Gesicht eines jungen Geschäftsmannes hinter der Frontscheibe eines Mercedes, der etwa auf seiner Höhe im Stau stand.
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