Der letzte Aufstand
Schaumstoffball dabei, mit dem sie eine Auflockerung der Sitzung erhofften. Doch der Ball war nicht das Einzige, das diesem Zweck dienen sollte. Die Sitzung fand im hellblauen Zimmer statt, das einerseits durch seine Farbe in eine Entspannung führte, andererseits mit einer Anlage ausgerüstet war, welche den Sauerstoffgehalt im Zimmer einige Prozent über die normale Sauerstoffsättigung der Luft anhob. Was man sich davon versprach, war eine leichte, natürliche Euphorie, die Widerstände schmelzen liess.
„Was soll der Ball?“, fragte Jean, kaum hatte er ihn in Kahils grossen Händen entdeckt. „Sind wir jetzt eine Kindergartenklasse?“
„Ich für meinen Teil wäre gern noch einmal im Kindergarten. Das war für mich eine Zeit, in der ich mich beschützt gefühlt hatte. Aber nein, wir brauchen den Ball nicht für Kinderspiele, sondern dafür, dass du nicht zu viel Fett ansetzt. Seit du bei uns bist, hab ich dich nur essen, schlafen und fernsehen gesehen. Du hast zugenommen, Jean. Das wollen wir heute ändern!“
Er warf Jean den Ball wuchtig zu. Dieser konnte nur noch die Arme schützend hochhalten, weil der Ball mit zu viel Geschwindigkeit auf ihn zu brauste, als dass er ihn hätte fangen können.
„Und deine Reaktionsbereitschaft können wir damit auch trainieren. Dann bist du beim nächsten Anschlagsversuch vielleicht ein wenig schneller und wendiger und lässt dich nicht verhaften wie ein Sack Kartoffeln.“
„Das heisst ich darf‘s nochmals versuchen? Ihr lässt mich raus?“, witzelte Jean.
„Sagen wir‘s mal so: Wenn du mich drei Runden nacheinander im Ping Pong schlägst, dann werde ich mich deinem Fall annehmen und dafür plädieren, dass man dich wieder auf die Menschheit loslässt.“
Jean stand auf und ging mit ausgestreckter Hand auf Kahil zu.
„Deal! Abgemacht!“
Kahil versteckte beide Hände hinter seinem Rücken. Er machte zwei Schritte zurück.
„Du musst aber eines bedenken!“
„Und das wäre?“
„Wenn du mich dreimal hintereinander im Tischtennis besiegt hast, dann wirst du all deine Minderwertigkeitsgefühle los sein. Ich glaube kaum, dass du dann noch andere Leute umbringen willst. Dann geht es dir so gut, dass du die Leute brauchst, damit sie dir zujubeln. Was wäre der Erfolg ohne die bewundernden Blicke der Unterlegenen?“
Die vietnamesische Übersetzerin, die neben Mien Dang Gao sass, gab sich Mühe die Konversation schnell und leise zu übersetzen. Plötzlich sprang der kleine vietnamesische Greis auf und lachte laut bellend auf. Dann sagte er irgendetwas in seiner Muttersprache. Alle Blicke im Raum fielen auf die Übersetzerin. Diese hob erklärend ihre Hände.
„Mien Dang Gao fragt, ob es Minderwertigkeitsgefühle sind, die dazu führen, dass man einen Terroranschlag durchführt.“
„Und wieso lacht er?“, fragte Lea.
Die Übersetzerin hob die Schultern. Sie wandte sich wieder dem alten Mann zu und fragte ihn. Nach einigem Hin und Her hatte sie eine Antwort.
„Mien Dang Gao war vor kurzem bei einem vietnamesischen Arzt, der ihm sagte, dass seine Lebenskraft langsam abnehme und der ihm deswegen Übungen verschrieb, die die Lebenskraft wieder steigern. Die hat er aber nicht durchgeführt, weil er plötzlich nur noch an dem Anschlag interessiert war und mit den Vorbereitungen zu beschäftigt war. Ein Minderwertigkeitsgefühl wird in vielen asiatischen Kulturen als Resultat eines schwachen Chis angesehen. Das ist das gleiche, wie eine schwache Lebenskraft. Er sagt, dass das erklären würde, wieso er den Anschlag begehen wollte. Wenn sein Chi zu schwach sei, dann sei er weniger von seinem Geist regiert, und deswegen habe er den Gedanken nicht abwehren können. Wenn er dem Rat seines Arztes gefolgt wäre, dann würde er jetzt nicht hier sitzen, weil sein Chi wieder stark geworden wäre ... Verstehen Sie?“
Lea nickte.
Mien Dang Gao steuerte die Tür an. Dazu murmelte er seiner Übersetzerin noch etwas zu.
„Er hat keine Zeit für die Gruppenstunde. Er muss jetzt Chi Gong üben gehen, damit seine Lebenskraft wieder steigt.“
Mien Dang Gao verliess das Zimmer. „Ich bin draussen auf dem Balkon, falls ihr mich braucht.“, sagte die Übersetzerin. Dann verliess auch sie das Zimmer.
Kahil ging zu dem Ball und hob ihn hoch. Er schmiss den Ball seitlich Jean an die Hüfte.
„Das würde dir auch gut tun! Ein wenig Chi Gong trainieren und Fett abbauen!“
Jean drehte sich um und schaute Kahil in die Augen.
„Dir wird das Lachen noch vergehen, wenn
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