Der letzte Aufstand
präsent gewesen war, herrschte jetzt einer Art körperliche Hoffnung und Zuversicht; der Schmerz schien verbannt. Wohin, konnte sie nicht sagen, er war einfach weg.
Die Frau trat an das schwebende Bett heran und nahm die Lichtvorrichtung vom Haken, an die sie sie vor einer Stunde gehängt hatte.
„Du siehst schon viel besser aus, Thekin!“, sagte die Frau.
„Ich fühle mich auch so ... wieso so schnell? Habe ich lange geschlafen?“
„Nur eine Stunde. Die Regenbogen-Lichter wirken direkt auf der Ebene der Gesundheit und laden die Energien schneller wieder auf, als jede andere uns bekannte Therapiemethode. Deshalb fühlst du dich nicht nur besser, sondern du bist tatsächlich fast schon genesen. Schau!“
Sie nahm einen Spiegel, der unter dem Bett lag, hervor und hielt ihn so hin, dass Livia ihren Bauch betrachten konnte, ohne dass sie sich gross anstrengen musste. Liv musste den Blick aber sofort abwenden. Sie hatte acht Stichwunden, die quer über ihren Bauch verteilt waren. Sie waren zwar alle schön am Verheilen, aber den Anblick rief eine Erinnerung in ihr hoch, die noch nicht aktiviert werden wollte. Eine Erinnerung an einen jungen Mann in einem schwarzen Kleid und an ein Metallinstrument, das sie nie wieder sehen wollte. Liv verbannte die Erinnerung zurück ins Vergessen, indem sie den Fokus ihrer Aufmerksamkeit verschob.
„Kann ich schon aufstehen?“
„Heute Abend. Jetzt noch nicht.“
Die Frau klatschte zweimal in die Hände, worauf sich die Tür nochmals öffnete und ein Mädchen von höchstens zwölf Jahren ihr einen Teller mit verschiedenen Speisen brachte. Das Mädchen stellte ihn auf den Rand des Betts und warf einen verstohlenen Blick auf die Wunden von Liv.
„Sie sieht aus wie wir ...“, flüsterte das Mädchen der Frau zu.
„Die Theken sind mit uns verwandt, Namaka. Sie sehen wie wir aus, sie denken wie wir, sie fühlen wie wir.“, antwortete die Frau.
Liv fühlte sich einen Augenblick, wie sich eine Löwin in einem Zoo fühlen musste. Die grossen braunen Augen des Mädchens staunten sie an. Die Frau legte ihre Hand auf den Kopf des Mädchens. „Geh jetzt, Namaka.“
Namaka nickte und verliess den Raum auf ihren Zehenspitzen.
„Eure Kinder sind gut erzogen ...“, sagte Liv, als das Kind den Raum verlassen hatte.
„Das macht die Kunst. Unsere Kinder lernen früh, dass es im Leben um das innere Wachstum geht, welches am besten durch die Kunst angeregt wird. Sobald sie das erkannt haben, erziehen sie sich selbst und wir müssen nur noch würdige Vorbilder sein ...“
„Tönt nach einer guten Welt. Unsere Kinder verbringen ihre Zeit damit sich in virtuellen Spielen gegenseitig mit Maschinengewehren runter zu mähen.“
„All eure Kinder?“
„Nein, aber zu viele.“
„Das war bei uns vor hunderten von Jahren auch der Fall, aber irgendwann kommt die Wende, Thekin.“
„Ich hoffe es ...“
Die Frau schaute mild auf die verkrusteten Wunden.
„In zwei Tagen solltest du so weit sein, dass du deinen Dienst antreten kannst.“
Liv schweifte mit ihren Augen von ihrem Bauch zum Gesicht der Frau hoch.
„Was für ein Dienst?“
„Tam hat dein Leben gerettet, indem er dich zu uns gebracht hat. Du wärest sonst an den Wundern verblutet. Damit schuldest du ihm drei Jahre deines Lebens.“
Die Frau nahm die von Blut befleckte Decke vom Bett und warf sie auf den Boden. Aus einer grossen Amphore an der Wand holte sie eine saubere.
„Du wirst seine erste Dienerin. Er ist noch jung.“, fügte sie an.
„Ich soll was?“
Liv traute ihren Ohren nicht.
„Du wirst ihm für drei Jahre dienen müssen, weil er Gnade gezeigt hat.“
„Du meinst den Kerl, der mich fast umgebracht hat?“
„Ja, er hat das Vard an dir geschult. Und er hat dir dein Leben geschenkt.“
Liv musste leer schlucken, während ihr eine Mischung aus Unverständnis, Wut und Verzweiflung aus dem Magen hoch zu steigen schien. Ihre Hand verkrallte sich in die frische Decke.
„Seid ihr verrückt?“
Die Frau gab keine Antwort, sondern legte ihre Hand auf Livias Stirn. „Schlaf jetzt, mein Kind. Die Zeit heilt alle Wunden und sie bewegt sich schneller, wenn du schläfst.“
Sie öffnete das Fenster, schnitt mit einer kleinen Schere einige Blätter eines niedrigen Strauchs, der in langen Beeten dem Fenster entlang wuchs, ab und legte die nach Honig duftenden Blätter neben das Kopfkissen. Dann verliess sie das Zimmer ohne ein weiteres Wort.
☸
Taaah, 194 Tage bis „Tag X“
Henk hatte
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