Der letzte Aufstand
vorsichtig, dabei musste sie mindestens zwei Schlaglöchern ausweichen, die das tiefgelegte blaue Toyota-Taxi kaum ohne grösseren Schaden überstanden hätte. Als sie bei der Schranke ankamen, hielt sie den Wagen erneut an.
„Ich denke wir brauchen ihren Ausweis noch einmal ...“, sagte sie leicht zu Guillaume hinüber gebeugt. Das Fenster war immer noch unten.
Der Wachmann trat aus dem Häuschen. Guillaume streckte ihm seinen Ausweis entgegen. Doch dann begann der Alptraum. Der Wachmann nahm eine Waffe mit aufgeschraubtem Schalldämpfer hervor und schoss ohne zu zögern viermal auf die Frau neben Guillaume. Guillaumes Herz blieb fast stehen. Was sollte das? Seine Instinkte übernahmen sofort das Ruder. Als der erste Schuss fiel, öffnete er automatisch die Türe und rollte Kopf voran aus dem Toyota. Den zweiten, dritten und vierten Schuss hörte er, als er hektisch auf dem Kies spulte und sich hinter dem Wagen verkroch.
Die Frau, die ihn im Wald aufgegabelt hatte, machte keinen Wank mehr. Kein Laut kam aus dem Inneren des Wagens; sie musste schon vom ersten Schuss tödlich verletzt worden sein. Wieso trifft es immer die Unschuldigen? Immer die Guten? Die Fragen waren Reflexe seines Geistes.
Guillaume hörte wie der Mann um den Wagen herum ging. Als ehemaliger Polizist erkannte er verschiedene Waffen meist auf Anhieb. Diese jedenfalls hatte er sofort erkannt. Der Wachmann trug eine Walther P22 mit einem Stangenmagazin, welches serienmässig zehn Schüsse hielt. Vier hatte er verschossen.
Guillaume fühlte sich in die eigene Vergangenheit zurück gesetzt. War er nicht gerade hier, an genau diesem Fleck, vor rund zwei Stunden von Philippe Broccart mit einer Waffe bedroht worden und dann entführt worden? Konnte das überhaupt sein, dass man innerhalb von so kurzer Zeit zweimal so einen Mist durchleben musste?
Die Schritte kamen näher. Der Mann würde jeden Moment hinter der Motorhaube auftauchen und zweifellos auf ihn schiessen. Guillaume robbte synchron mit den Schritten hinter den Kofferraum. Dann griff er an seinen Gürtel, wo der Tazer gesichert hing. Broccart hatte ihm den Tazer abgenommen und auf dem Hintersitz des Taxis liegen lassen, als er ihn im Wald exekutieren wollte. Guillaume hatte ihn vor fünfzehn Minuten wieder an den Gürtel gesteckt.
Plötzlich wurde die Situation zu einem Duell. Guillaume, der jetzt mit schussbereiter Waffe halb unter das Auto gerobbt war und unterhalb des Hinterrads wie ein jagender Adler nur in eine Richtung starrte, hatte den Tazer entsichert. Zeigefinger am Auslöser. Was war bloss in den Mann gefahren? Verdammt, was war mit der Welt los? Gab es überall nur noch Wahnsinnige?
Guillaume würgte sein eigenes Denken ab, bis nur noch pure Aufmerksamkeit übrig war. Dann gab es eine kurze Ewigkeit destillierter Stille, in der Guillaume jede Bewegung mit einem Schuss des Tazers quittieren würde. Der Wachmann tauchte in seinem Sichtfeld auf. Guillaume drückte ohne auch nur einen Moment lang zu zögern ab. Ein weiterer Schuss fiel aus der Walther P22 und bohrte sich auf Höhe der Hintersitze durch das blaue Blech des Toyotas. Guillaume hatte so etwas erwartet, weil die plötzliche Verkrampfung der Muskulatur auch den Finger am Auslöser tangierte. Der Uniformierte in ATO-Uniform fiel zuckend zu Boden. Hastig robbte Guillaume unter dem Auto hervor und nahm dem Mann die Waffe ab. Dann zog er ihm die Handschellen an, zog ihn zum Häuschen und kettete ihn an derselben Heizung an, wo noch vor kurzem Yeva angekettet gewesen war. Ohne zu verschnaufen, tippte Guillaume an seinen Begleiter.
„Kahil, bist du da?“
Keine Antwort. Nur das Stöhnen des Wachmanns neben ihm war zu hören.
„Kahil?“
Nichts.
„Guillaume an Wachholder. Hört mich jemand? Yeva? Lea?“
Scheisse, dachte er. Was ist hier bloss los? Er blickte auf den Bildschirm in Wachhäuschen.
Arrival-Alert, Guillaume Giroux, 2987, stand in roten Buchstaben dort.
Nichts deutete auf etwas hin, das nicht stimmen könnte. Dann wandte Guillaume sich dem Wachmann zu.
„Was ist hier los? Hast du eine Schraube locker? Wieso schiesst du auf uns und tötest eine Frau kaltblütig? Du wirst den Rest deines Lebens hinter Gittern verbringen! Arschloch!“
Der Mann blickte ihn unbeeindruckt an. Als gehöre er einer anderen Welt an. „Deine Welt wird sowieso nicht mehr lang weiter existieren. Und wenn mein Meister dich erwischt, wird er dich den Hunden zum Frass vorwerfen!“
Guillaume schaute den Mann am Boden an.
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