Der letzte Aufstand
„Hast du nicht alle Tassen im Schrank?“
Er kickte gegen die Wand. Das ganze Gebäude wackelte.
„Wir werden ja sehen, wer hier richtig tickt und wer nicht ...“, erwiderte die Wache. Der Mann atmete laut aus, als sei er empört.
Guillaume tat einen Schritt aus dem Häuschen. Der Typ war eindeutig nicht mehr bei Sinnen, schien nur halb zu realisieren, was er getan hatte. War das das nächste Stadium im Terror? Dass Halbzombies durch die Welt streiften und willkürlich Leute abknallten, ohne recht zu verstehen, was sie eigentlich taten?
Guillaume berührte noch einmal seinen Begleiter. „Hallo? Wachholder?“
Doch nur die kalte Stille der digitalen Welt war zu hören. Er wartete fünf Sekunden, dann ging er los und auf den Wachholder-Wohnblock zu. Den Blick musste er von der toten Krankenschwester im Auto abwenden, als er an dem Wagen vorbei ging. Vor fünf Minuten hatte sie ihm noch von ihrem Chef erzählt, dem sie heute zum Geburtstag eine Überraschung machen würde. Und jetzt lag sie starr in einem Taxi. Die Welt war mehr als am Durchdrehen. Jetzt ragte der Terror bereits in die eigenen Reihen hinein; in die Organisation, die doch eigentlich all dem Wahnsinn ein Ende hätte bereiten sollen.
19.15 Uhr
Tom Varese wachte erholt auf und blickte um sich. Es war der vierte Tag seit seinem missglückten Anschlag. Die Kerze, die er auf Anraten seiner Zähne angezündet hatte, brannte noch immer, nur war sie jetzt deutlich kleiner. Draussen war es am Eindunkeln. Tom rollte aus dem Bett und machte sich zum Badezimmer-Spiegel auf. Seine Zähne strahlten in kräftigem Weiss. Er öffnete halb den Mund und starrte sie an. Hatten sie ihm den Misstritt verziehen? Jeden Tag schienen sie ein wenig besser gelaunt, ein wenig mehr in der Stimmung ihm sein Versagen zu vergeben. Tom tat etwas Zahnpasta auf seine Zahnbürste und begann die Zähne zum achten Mal heute zu putzen. Sie erzählten etwas über eine Gelegenheit, die Dinge wieder gut machen zu können; er müsse nur aufmerksam sein, sagten die Zähne. Tom war froh, dass sie sich einer weiteren Kommunikation nicht länger verschlossen. Er spülte seinen Mund mit einem Bakterien vernichtenden Mundwasser, das Lea ihm besorgt hatte, als sie gemerkt hatte, wie wichtig es ihm war. Dann blickte er auf seine goldene Uhr. Es war viertel nach sieben. Einen Moment lang war er irritiert. Normalerweise wurde hier doch um sieben das Essen serviert? Tom spürte seinen Magen. Der knurrte zwar noch nicht, aber eine Füllung war bitter nötig. Und seine Zähne wollten etwas zum Kauen, das nahm er deutlich wahr.
Er verliess das Badezimmer, löschte die Kerze mit einem kräftigen Pusten aus und begab sich zum Fenster in der Tür, um in den Gang spähen zu können. Es war Essenszeit, merkten die dummen Menschen hier das nicht?
Im Flur war es dunkel. Das war untypisch. Tom klopfte an die Tür. „Hallo? Essenszeit!“, rief er durch die Tür.
Doch er erhielt keine Antwort. Entnervt packte er die Tür an der Türfalle und begann daran rum zu rütteln. Doch anstatt den Widerstand der abgeschlossenen Tür zu spüren, ging die Tür beim ersten Rütteln sofort auf.
Tom hielt inne. Hatten die Dummen vergessen seine Tür abzuschliessen? Seine Gedanken rasten sofort zur Bemerkung seiner Zähne, die brav in seinem Kurzzeitgedächtnis wartete. Eine Gelegenheit würde sich ergeben, hatten sie gesagt. Tom fühlte einen Schwall an Dankbarkeit und Freude, der ihm durch die Wirbelsäule aufstieg und sich im ganzen Körper ausbreitete. Bevor er etwas weiteres tat, streichelte er über seinen Unterkiefer. Eine Liebkosung für seine Zähne.
Dann öffnete er behutsam die Tür. Für einmal war er froh, dass es ein neues und teuer gebautes Gebäude war: die Türe quietschte kein bisschen. Kein Knarren, nicht der Spur nach, alles gut geölt und neu. Er horchte. Nichts war zu hören. Die Freiheit lag plötzlich in erreichbarer Nähe. Die Dummen, sagte Tom zu sich selbst. Er spürte, wie selbst seine Zähne im Mund über die Dummheit der ATO lachten. Doch dann zwang er sich zur Besonnenheit. Er wollte seine Zähne kein zweites Mal enttäuschen; diesmal würde er auf Nummer sicher gehen und nichts vermasseln. Zuerst musste er die Situation besser erfassen.
Tom ging auf Zehenspitzen und in den Socken durch den Flur. Einfach keine Geräusche verursachen, sagte er sich selbst immer wieder. Er ging bis ins Empfangsareal. Auch dort war niemand. Aus der Küche hörte er Stimmen. Doch es war nicht das
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