Der letzte Aufstand
lass uns dein Werk erhören.“ Er setzte sich wieder.
Pete stand auf. Er wollte formal wirken. Sein Herz pochte laut in seiner Brust. Er räusperte sich, damit er den Vortrag mit reiner Stimme tätigen konnte. Dann liess er etwas Zeit verstreichen und begann zu lesen. Zuerst sprach er den Titel seines Gedichts.
Die Fäulnis
Wieder eine kurze Pause, dann legte er los. Ruhige Stimme.
Wenn die Sterne dich kochen
der Atem dir stockt
und in der Kehle brennt
weil er weder ein, noch aus will.
Wenn der Grund dich zerbricht
dein wallendes Blut dich erstickt
und dir dabei die Adern gefrieren
weil sie ihren Sinn nicht mehr kennen.
Wenn die Zukunft dich anlügt
deine Haut dich verlässt
und deine Schreie sich im Überrest
deines Kehlkopfs verirren
Wenn deine Welt dich auskotzt
wie einen faulen Bissen vergammelten Brotes
Wenn sie dir nehmen, was du nie verdient hast,
dann fehlen die Worte, dann ...
Pete liess die Worte verklingen, als handle es sich um die letzten Töne einer Symphonie. Er hielt die Augen zu. Mehr konnte er seiner Kunst nicht mehr abringen, mehr hatte er es nicht auf den Punkt bringen können. Es war die Zusammenfassung seines Lebens, seiner Situation. Ein Leben in fünf Verse gegossen.
Er war in einem Vakuum. Kein Laut, selbst die Vögel dieser fremden Welt waren scheinbar verstummt und horchten jetzt in ein sich ausbreitendes Nichts hinein. Mehr gab es nicht. Das war‘s dann wohl, dachte Pete. Er erinnerte sich an den brausenden Applaus, als die Zuschauer Tams Skulptur gesehen hatten und an das Raunen, das ihm vorausging.
Jetzt, nach dem Vortrag seines Gedichtes, herrschte Ruhe. Selbst der Wind schien die Wipfel der Bäume um den Schauplatz nicht mehr zu bewegen.
Ich hab‘s vermasselt, dachte Pete still. Eine unendliche Traurigkeit bemächtigte sich seiner Sinne. Jetzt war es endgültig vorbei, dieses Leben.
Doch dann schwoll es an. Zuerst waren es einzelne Zuschauer, die kräftig zu klatschen begannen. Kurz danach kam es einer Standing Ovation gleich. Vereinzelt riefen Leute das Wort tapfer! , was wohl dem Bravo! der Erde entsprach, folgerte Pete. Erst als der Zeremonien-Meister seinen Stab tüchtig auf den Boden schmetterte, kehrte wieder Ruhe ein. Der alte Mann hob die Arme gen Himmel.
„Möge die Harmonie den Gewinner bestimmen!“
Plötzlich begannen die Zuschauer und der Zeremonien-Meister einen willkürlichen Ton zu singen, was arg nach einer Kakophonie tönte, da jeder Einzelne in der Arena einen anderen Ton gewählt hatte. Die ideale Klangkulisse für einen Horrorstreifen, dachte Pete. Die Nackenhaare standen ihm auf; sein Körper schien das Wirrwarr von Tönen als Bedrohung zu erleben. Gute zehn Sekunden hielt das Durcheinander an, aber dann begann der Klang sich wie ein lebendiges Wesen zu bewegen. In kleinen Teilen der Arena glichen die Leute ihre Töne aneinander an. Und das setzte sich so fort, bis aus den Hunderten von Frequenzen plötzlich nur noch vier Töne geworden waren, die gesungen wurden.
Pete blickte kurz zu Tam hinüber. Doch Tam war am Mitsingen, er schien sich selbst als einen Teil der Jury zu sehen. Eine eigenartige Weise zu einer Entscheidung zu kommen, dachte Pete. Man konnte hinten und vorne nicht nachvollziehen, was hier geschah; zumindest nicht, wenn man von der Erde war und den Grossteil des Lebens in New York verbracht hatte.
Nach guten fünf Minuten gab es nur noch einen Ton, der von der ganzen Arena gesungen wurde. Der Zeremonien-Meister hob die Hände und brachte damit die Menge zum Schweigen.
Petes Kehle war trocken wie Schmirgelpapier. Der alte Mann mit dem Stab richtete seinen Blick auf Tam, dann auf Pete.
„Mögen die Duellierenden einen Schritt nach vorne tun, um die Urteilsverkündigung zu vernehmen.“
Pete tat einen Schritt. Dann schloss er die Augen. Alles oder Nichts, wiederholte er in Gedanken. Alles oder Nichts.
Eine Stille, einer Ewigkeit gleich, breitete sich im Tal der Arena aus. Schliesslich holte der Meister Luft.
„Die Harmonie erklärt den Theken zum Gewinner!“
Es blieb still. Kein weiterer Beifall. Doch die Köpfe der Zuschauer gingen auf und ab; sie nickten, den Entschluss der Harmonie anerkennend.
Tam verneigte sich vor dem Zeremonien-Meister. Dann trat er zu Pete hinüber und verneigte sich noch einmal.
„Ich danke dir für das Duell!“, sagte er zu Pete.
„Wo ist Liv?“, fragte Pete.
„Bei mir zuhause. Ich habe ihr nichts von dem Duell erzählt. Du kannst mit mir
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