Der letzte Aufstand
Wendeltreppe hoch. Langsam, weil sein Alter grössere Schritte nicht mehr zuliess. Pete folgte ihm. Der Mann klopfte mit dem Stock an eine Falltür über ihm, und kaum hatte er dies getan, wurde die Tür von oben aufgezogen. Licht fiel auf die Wendeltreppe. Das Murmeln der Menge war wieder da.
Einige Augenblicke später stand Pete neben dem Zeremonien-Meister und schaute in die Menschenmenge, die nun immer ruhiger wurde. Die Sache schien sehr zivilisiert: kein Geschrei oder Anfeuern, keine Schlachtgesänge wie in einem Fussballstadion. Vielleicht würde es doch weniger wie ein Gladiatoren-Kampf werden, dachte Pete. Das Herz schlug ihm trotzdem bis in den Kopf hinauf; er spürte jedes Pochen bis in seine Schläfen.
Auf der anderen Seite des Mannes in der blauen Tracht stand Tam. Er war ruhig und gefasst. Erst jetzt merkte Pete, dass er sich den jungen Mann immer mehr als ein Monster vorgestellt hatte, seit er in Paris davon erfahren hatte, dass Liv ihm dienen musste. Aber war er nicht genau das? Ein Monster? Pete erinnerte sich an das viele Blut zurück, das in der Wohnung vergossen worden war. Der Soldaten-Lehrling hatte seine Liv mit diesem grausamen Metallteil pikiert, als sei sie eine Lammkeule, die danach mit Knoblauch gespickt werden sollte. Er war ein Monster! Wenn auch eines, das sich momentan zivilisiert benahm. Aber auch ein Massenmörder konnte bei der Verkündung des Urteils im Gericht stramm stehen; das hiess noch lange nicht, dass er zivilisiert war.
Während der Zeremonien-Meister scheinbar darauf wartete, dass auch die hinterste und letzte Stimme verstummte, stieg in Pete wieder die heilige Wut auf, wie er sie mittlerweile benannte. Der Junge würde kein leichtes Opfer in ihm finden. Pete würde bis auf den letzten Blutstropfen kämpfen und sei es nur deshalb, weil er dem Kerl so den eigenen Hochmut brechen konnte.
„Liebe Versammelte, lasst uns den König ehren!“, sagte der Zeremonien-Meister schliesslich. Die ganze Arena erhob sich leise. Die Köpfe wurden nach vorne geneigt, als handle es sich um ein Gebet. Pete tat es ihnen nach.
Eine kleine Ewigkeit später setzten sich die Leute wieder. Der Zeremonien-Meister sprach weiter.
„Wir sind heute versammelt, um die Weisheit über einen Disput entscheiden zu lassen, liebe Versammelte. Pete, der Theke - zu meiner Rechten -, fordert Tam, den Anwärter der Leibgarde - zu meiner Linken -, zu einem Duell heraus. Und zwar, weil er seine Freundin Livia, die Thekin, aus den Diensten von Tam, dem Anwärter, befreien will. Und wir sind alle hier versammelt, um die Weisheit in ihrem Urteilsspruch zu unterstützen, liebe Versammelte.“
Wie aus einem Munde antwortete die Meute mit einem tiefen A-Vokal, der fast schon gesungen war. Aa!
„Bringt die Utensilien, damit das Duell beginnen kann!“
Von links und rechts trugen nun in blaue Tücher gewickelte junge Männer und Frauen kleine Tische auf die Bühne. Sieben Tische wurden hingestellt. Dann kamen in blaue Tücher gewickelte Kinder und legten verschiedene Utensilien auf die Tische, nur um gleich darauf wieder von der Bühne zu springen.
„Wählt eure Kunst!“, sagte der Zeremonien-Meister. „Und erschafft die vollkommenste Äusserung eurer Argumente!“
Er trat zur Seite. Tam ging zu den Tischen und begann vor ihnen auf und ab zu gehen. Pete, derweil, begriff langsam, dass das Duell, das ihm bevorstand kein gewöhnliches Duell werden würde. Er musste nicht gegen Tam kämpfen und sein Blut vergiessen, sondern Tam in einem Kunstwettbewerb schlagen.
Pete spürte, wie eine milde Erleichterung sich in ihm breit machte. Vielleicht hatte er doch eine Chance? Vielleicht konnte er noch heute mit Liv zurück reisen? Eine Zukunft mit ihr haben?
Pete schritt an die Tische heran. Auf dem ersten Tisch lagen verschiedene Schnitzmesser. Auf den folgenden gab es Farben und Pinsel, kleine dichte Hecken in langen Töpfen, neben denen Scheren bereitlagen, Kohlenstifte und Pergamente, Wolle und Stricknadeln, Tusche und Feder und Papier und schliesslich lagen auf dem letzten Tisch Rasseln bereit.
Pete musste nicht lange überlegen. Er ging zum sechsten Tisch und nahm die Tusche, Feder und das Papier zur Hand. Seine Wahl wurde mit einem leisen Klatschen vom Publikum quittiert. Tam wählte die Schnitzmesser und das Holz, auch er erhielt einen kleinen Applaus.
„Ihr habt gewählt. Ihr habt ab jetzt eine halbe Stunde Zeit. Erschafft euer Meisterwerk. Auf dass der Bessere gewinne!“
Der Zeremonien-Meister klopfte
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