Der letzte Aufstand
Problem.“, sagte Lea.
Kahil nickte ihr zu. „Was genau?“
„Ich habe weder Aggressionen, noch grosse Ängste, noch Vorurteile in mir. Echt. Wenn ich in die Welt blicke, sehe ich schöne Bäume und einen wunderschönen grauen Himmel über mir. Wenn ich atme, spüre ich frische gesunde Luft, die in meine Lungen strömt. Wenn ich die Welt mit meinen Ohren durchdringe, höre ich das liebliche Säuseln des Windes, das beruhigende Rauschen des Laubs, das Zwitschern der Vögel in den Bäumen. Wo ich hinblicke ist Schönheit. Wie kann ich diese Übung durchziehen, wenn ich diese negativen Seiten der Welt kaum sehe?“
„Ich weiss genau, was du meinst. Mir geht es genauso, seit ich mein Leben in den Dienst Allahs gestellt habe. Aber früher war ich anders. Früher war ich umrundet von Feinden, die Welt war grau und schlecht, mein Innenleben war fast nur negativ. Wie war das denn bei dir, früher, meine ich?“
„Nicht gross anders als jetzt. Ich hatte eine schöne Kindheit, bin immer viel in der Natur gewesen, habe immer an das Gute in der Welt geglaubt ...“
Lea schaute in sich hinein. Ihre Augen waren matt, als sie in ihre eigenen Gedanken blickte.
„Hattest du nie Streit mit einer Freundin? In der Schulzeit? Oder eine Wut, weil du ungerecht behandelt worden warst?“
Lea zog in regelmässigen Abständen an der Leine im Wasser. Was auch immer die Fische von diesem regelmässig auf und abtanzenden Wurm hielten.
„Eigentlich nicht. Aber ich merke gerade, wie sehr ich vielleicht auch immer auf einem hohen Ross gesessen bin und mich mit den Problemen der Welt nie beschäftigt habe, weil ich vielleicht nie ein Teil dieser Welt war, oder sein wollte? In einem gewissen Sinne hab ich mich vielleicht immer für etwas Besseres gehalten und bin deswegen gar nicht auf Beziehungen eingegangen, die mich in irgendeiner Weise hätten verletzen können.“
„Na, da hast du ja deinen persönlichen Abgrund.“
„Du meinst ich bin hochmütig?“
„Nein, ganz und gar nicht. Ich finde dich wundervoll, aber vielleicht meinst du, dass du hochmütig bist?“
Lea lächelte. Dann zog sie plötzlich ruckartig an der Angelschnur. Sie begann zu ziehen, musste alle Muskelkraft ihrer Arme und ihres Oberkörpers einsetzen, um nicht in den See gezogen zu werden. Wer auch immer dort unten angebissen hatte, schien nicht kampflos aufgeben zu wollen. Lea musste mit beiden Händen an der Schnur ziehen, konnte das Tier aber nicht an die Wasseroberfläche ziehen.
„Hast du einen Walfisch am Haken?“, fragte Kahil.
Zusammen zogen sie einen halben Meter langen Karpfen aus dem Wasser. Als er auf dem Gras lag und verzweifelt zappelte, zog ihm Kahil mit dem Fuss eins über dem Kopf. Das Zappeln hörte auf.
„Der wird uns sicher drei Tage ernähren!“, sagte Lea.
„Ja, ich schlage vor den grössten Teil des Fisches räuchern wir im Kamin, damit er nicht verrottet und wir in drei Tagen noch davon essen können. Wie wär‘s mit einem Happen Morgenessen?“
„Gegrillter Fisch?“
Kahil nickte, stemmte den Fisch hoch und trug ihn zur Hütte, vor der Lea und er sich am Anfang der Woche einen Feuerplatz eingerichtet hatten. Lea folgte, den Ordner unter dem Arm.
Bei der Hütte angekommen, legte Kahil den Karpfen auf ein Bänkchen. Doch dann hielt er inne. Seine Augen brannten, wie aus heiterem Himmel. Kahil wusste nicht wieso, aber er spürte Gewalt immer in den Augen, und hier war plötzlich Gewalt präsent. Ohne sich gross auffällig zu benehmen, suchte er mit seinem Blick die nähere Umgebung ab. Lea schlenderte zum Bänkchen und legte den Ordner neben den Karpfen. Mit einem Blick zu Kahil merkte sie, dass er etwas bemerkt hatte.
„Was ist los?“
„Etwas stimmt hier nicht.“
Lea drehte sich, schaute sich nach etwas Auffälligem um. Die Spannung in Kahils Augen erhöhte sich. Was war hier los?
„Ich sehe nichts. Ist alles so wie‘s vorher war, bevor ich zu dir an den See gekommen bin. Was meinst du?“
„Ich spüre es in meinen Augen. Irgend etwas ist hier ...“ - er suchte nach Worten - „ ... voller Gewalt. Ich kann‘s nicht anders sagen.“
Lea öffnete vorsichtig die Tür der Hütte. Sie streckte den Kopf hinein. Dann nahm sie Kahil bei der Hand. „Komm wir gehen um‘s Haus herum.“
Kahil folgte ihr, doch rund um das Haus war alles unauffällig. Erst als die beiden das Haus fast umrundet hatten, fanden sie eine Bestätigung für Kahils Gefühl.
Am Boden lag ein Papiertaschentuch.
„Ist das von dir?“, fragte
Weitere Kostenlose Bücher