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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Turow
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öffentliche Eigentum gelegt.
    Rory sagte: »Ich finde, Yee hätte Ihnen erlauben sollen, das Mädchen zur Sprache zu bringen.«
    »Yee wird uns nie erlauben, das Mädchen zur Sprache zu bringen«, sagte Tommy. »Und ich glaube, ich weiß auch, warum.«
    »Weil er nicht will, dass sein Urteil aufgehoben wird«, sagte Brand, ihr Standardspruch, wenn sie über Yee redeten.
    »Nein, weil er weiß, dass wir das nicht nötig haben. Im Geschworenenraum werden zwölf Leute sitzen. Zusammengenommen kommen die auf sagen wir mindestens fünfhundert Jahre gelebtes Leben. Und was sagt jeder als Erstes, wenn er hört, dass ein Mann im mittleren Alter die Frau sitzen lässt, mit der er sein ganzes Leben lang zusammen war?«
    Rory lachte: »Der hat doch bestimmt was laufen.«
    »Exakt. Genau das wird die Hälfte der Leute in dem Raum sagen. Und offen gestanden, das, was die sich da zusammenreimen werden, ist wahrscheinlich um ein Vielfaches besser als alles, was wir beweisen können.«
    Brand nahm die Füße herunter und beugte sich vor: »Also, worum machst du dir Sorgen?«
    Brand war der Einzige im Raum, der Tommy so gut kannte, dass er ihm das anmerkte. Tommy nahm sich einen Moment Zeit, um in sich hineinzuhorchen, konnte aber keine wirklich konkrete Antwort liefern.
    »Sandy Stern ist ein Konterspieler«, sagte er. »Das ist das eine.« Stern hatte schon vor langer Zeit erkannt, dass es in einem Prozess darum geht, Erwartungen zu bedienen, und dass keiner die Stimmung im Gerichtssaal von Anfang bis Ende kontrollieren kann. Sandy wusste, dass er einen guten Tag oder sogar eine gute Woche der Staatsanwaltschaft überstehen würde, vorausgesetzt, er konnte zurückschlagen. Tatsächlich war jetzt klar, warum Stern seinen Mandanten als ersten Zeugen aufgerufen hatte. Weil er nun nämlich anfangen würde, Rustys Glaubwürdigkeit wiederherzustellen. Tommy argwöhnte sogar, dass Stern sich gewünscht hatte, Rusty möge gelegentlich schwächeln, damit die Geschworenen sich am Ende ein wenig für ihre Zweifel schämten, wenn erst einige davon ausgeräumt worden waren. Tommy versuchte schon lange nicht mehr, Sterns Schachzüge im Gerichtssaal zu kontern. Gegen Sandys Spiel würde er nichts ausrichten können. Er musste sein eigenes spielen. Jeden Tag stur geradeaus. »Wartet's nur ab«, sagte Tommy. »Stern ist noch lange nicht am Ende.«
    »Wir werden mit ihm fertig«, sagte Brand.
    »Werden wir«, sagte Tommy. »Aber wisst ihr, woran sich die Geschworenen in zwei Wochen noch erinnern werden? Dass Rusty gesagt hat, er war's nicht. Und dass er nicht geschwächelt hat. Die meiste Zeit hat er ganz ruhig gewirkt, und er war nicht auffällig ausweichend.«
    »Er hat sich zu viel gewehrt«, sagte Rory. Ruta, die Assistentin, hörte aufmerksam zu, äußerte aber keine Meinung. Sie war eine stämmige Blondine, neunundzwanzig Jahre alt, kurz vor Beginn ihres Jurastudiums und heilfroh, einfach nur im Büro des Oberstaatsanwalts zu sitzen und diesen Gesprächen zu lauschen.
    »Er hat sich ein bisschen zu viel gewehrt«, sagte Tommy. »Aber er hat sich gut geschlagen. Sehr gut sogar, wenn man bedenkt, was ihm vorgeworfen wird. Aber -« Tommy verstummte. Plötzlich wusste er, was ihn irritiert hatte. Er hatte Sabich schwer in die Mangel genommen, aber der Mann hatte irgendwie im tiefsten Innern unberührt gewirkt. Nicht einen Moment lang hatte er ausgesehen, als hätte er jemanden getötet. Das war natürlich auch nicht zu erwarten gewesen. Tommy hatte nie großartig darüber nachgedacht, was eigentlich mit Rusty nicht stimmte, aber es war irgendetwas Unergründliches und Kompliziertes, á la Jekyll und Hyde. Und Sabich spielte seine Rolle kaltblütig. Keine unsteten Blicke. Nichts Unsicheres. Die Vernunft war aufseiten der Anklagevertretung. Aber der emotionale Gehalt im Gerichtssaal war verworrener gewesen. Zugegeben, es gab eine irrwitzig lange Liste von Dingen, die Rusty nur mit Zufall erklären konnte - Harnason, die Fingerabdrücke, das Phenelzin, das er abgeholt hatte, sein Einkauf von Wein und Käse, die Internetrecherchen über das Medikament. Aber Tommy hatte gegen seinen Willen einige Sekunden extremer Frustration erlebt, weil Rusty das alles so gelassen erklärte. Wahrscheinlich musste Sabichs Psychopathologie erst noch wissenschaftlich erforscht werden, aber nach dreißig Jahren als Staatsanwalt hatte Tommy förmlich einen eingebauten Lügendetektor, dem er mehr vertraute als jedem, der die flatternden Nadeln des Geräts interpretierte.

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