Der letzte Beweis
Und manche auf der Geschworenenbank, vielleicht sogar alle, mussten dasselbe gesehen haben wie Tommy. Selbst wenn Rusty der Einzige im Saal war, der das glaubte, irgendwie hatte er sich selbst davon überzeugt, dass er nicht schuldig war.
»Was hältst du von seiner Behauptung, seine Frau hätte Phenelzin auf seinem Computer gegoogelt?«, fragte Brand. »Das ist doch bescheuert. Als ob sie das Zeug zwölf Jahre lang nimmt, ohne sich damit auszukennen.«
»Das musste er versuchen«, sagte Rory.
Tommy pflichtete ihr bei. »Genau. Wie hätte er sonst erklären sollen, dass er zum Supermarkt geht und kurzerhand alles kauft, was sie umbringen könnte? Wenn sich einer diese Seiten angesehen hat, dann muss er doch praktisch sagen: >Nein, nein, Schatz, lass uns lieber Tortilla-Chips und Guacamole essen.< Zumindest würde man mit ihr drüber reden.«
»Aber er hat ihr auch unterstellt, seine E-Mails gelöscht zu haben«, sagte Brand.
Rory schüttelte den Kopf. »Das war an und für sich das einzige gute Argument, das er gebracht hat«, sagte sie. »Wieso löscht er seine E-Mails, aber nicht das Zeug im Cache von seinem Webbrowser?«
»Weil er es schlicht und ergreifend vergessen hat«, sagte Brand. »Weil er kurz davor war, seine Frau umzubringen, und durch so was wird sogar jemand wie er ein bisschen nervös und zerstreut. Dieses blöde Argument hört man doch nun wirklich in jedem Prozess. >Wenn ich so ein gerissener Ganove bin, wieso habt ihr mich dann erwischt?> Ich meine, er hat's oft genug gehört. Außerdem, vielleicht war er in Eile, weil der Termin unmittelbar bevorstand.«
»Welcher Termin?«, fragte Rory.
»Ihr Ablaufdatum. Der Mann ist doch ein kranker Wichser«, sagte Brand. »Anscheinend wollte er Mama noch einmal ihren Sohnemann sehen lassen, ehe er sie in die ewigen Jagdgründe schickt. Ich meine, ein kranker Wichser wie der findet das wahrscheinlich noch gütig.«
Tommy hörte dem Wortwechsel zu und zog sich noch etwas tiefer in sich selbst zurück. Irgendwas störte ihn daran, dass Brand Rusty als »kranken Wichser« bezeichnete. Er fand es nicht unberechtigt, Rusty übel zu titulieren - was sollte man auch sonst über einen Mann sagen, der detailliert den Mord an einer zweiten Frau geplant hatte, nachdem er mit dem Mord an einer ersten ungestraft davongekommen war? Aber in Wahrheit gab es im ganzen Gerichtssaal niemanden, der Rusty so durch und durch kannte wie Tommy. Nicht sein Anwalt - nicht mal sein Sohn. Tommy hatte Rusty vor fünfunddreißig Jahren kennengelernt, als Tommy noch studierte und Rusty als dritter Prozessanwalt für Ray Horgan am Fall Matuzek mitarbeitete, einem Landrat, dem Bestechlichkeit vorgeworfen worden war. Seitdem hatte Tommy den Mann aus jedem Blickwinkel beobachtet - hatte im Büro neben ihm geschuftet, an seiner Seite Anklagen geführt, unter seiner Anleitung gearbeitet, er hatte Rusty, den Angeklagten, und später Rusty, den Richter, im Gerichtssaal erlebt. In der ersten Zeit, besonders vor Nats Geburt, hatten sie sich sogar gut verstanden. Als Tommy zur Staatsanwaltschaft kam, hatten Rusty und Tommys alter Freund Nico Deila Guardia oft am Wochenende was zusammen unternommen, und gelegentlich war Tommy mit von der Partie gewesen. Sie hatten sich Spiele der Trappers angeschaut und so manches Glas miteinander getrunken. Zu dritt saßen sie zusammen und rauchten die kubanischen Zigarren, die Nico besorgt hatte, als Rusty einen Tag nach Nathaniels Geburt zurück ins Büro kam. Im Laufe der Zeit dann hatte Tommys Sympathie für Rusty immer mehr abgenommen. Je höher Sabich in der Behörde aufstieg, meistens auf Nicos Kosten, desto reservierter und selbstgefälliger war er geworden. Und nach dem Polhemus-Prozess, als Tommy hierher zurückkehrte, nachdem ein Jahr lang gegen ihn ermittelt worden war, erschien ihm Rustys Gesicht bloß noch als schlecht sitzende Maske, die ihn jedes Mal, wenn sie sich begegneten, verlogen grüßte.
Und dennoch. Tommy fragte sich in seinem Job nicht häufig, warum oder wie. Man sah Menschen auf Abwege geraten: beliebte Priester, die unzähligen Menschen halfen, Gott in ihrem Leben zu finden, und dann Videoaufnahmen davon machten, wie sie Sechsjährige missbrauchten; Multimilliardäre, denen ganze Footballmannschaften und Einkaufszentren gehörten und die irgendwen um fünfzehn Riesen betrogen, weil sie sich einfach immer ihre eigene Überlegenheit beweisen mussten; Politiker, die als anerkannte Reformer gewählt wurden und kaum, dass sie in Amt
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