Der letzte Beweis
getrunken hat?«, frage ich Anna, während ich mir die Aussage meines Vaters durch den Kopf gehen lasse. Ich habe schon längst gegen die Auflage verstoßen, nicht mit Anna über den Fall zu sprechen. Ich muss mit jemandem reden, und es ist so gut wie ausgeschlossen, dass auch sie in den Zeugenstand gerufen wird.
Zwei Tage nachdem Debby Diaz mit mir gesprochen hatte, machte sie Anna ausfindig, aber ich hatte sie vorgewarnt, und sie versteht sich weit besser auf dieses Spiel als ich. Sie ließ Diaz zu sich in die Kanzlei kommen, und einer der Seniorpartner war bei dem Gespräch als ihr Anwalt dabei. Als Diaz danach fragte, wer an dem Abend, bevor meine Mutter starb, was getan hatte, sagte Anna, sie wäre furchtbar nervös gewesen, weil sie das erste Mal als meine Freundin mit bei meinen Eltern war, und könne sich an nichts mehr richtig erinnern. Jedes Mal wenn sie eine Frage beantwortete, fügte sie hinzu: »Sicher bin ich mir da nicht«, und »Kann aber auch anders gewesen sein«, und »Genau kann ich das nicht mehr sagen.« Mitten in der Befragung gab Diaz einfach auf. Die Anklagevertretung setzte Annas Namen auf die Zeugenliste, wie überhaupt jede Person, mit der die Polizei im Zuge ihrer Ermittlungen gesprochen hatte, sogar den Betreiber der chemischen Reinigung, zu der mein Dad geht. Mit diesem alten Trick wollten sie verschleiern, wen sie tatsächlich aufrufen würden. Aufgrund dessen darf Anna nicht in den Gerichtssaal, brennt aber immer darauf, zu erfahren, was passiert ist.
Als Antwort auf meine Frage nach dem Wein ruft mir Anna jetzt in Erinnerung, dass meine Mutter, als wir uns zum Essen hinsetzten, darauf bestand, dass mein Dad die gute Flasche Wein aufmachte, die Anna mitgebracht hatte, und er jedem von uns daraus einschenkte. Aber wir wissen beide nicht mehr genau, ob meine Mom dieses Glas anrührte oder das Glas, das mein Dad ihr vorher in die Küche gebracht hatte.
»Was ist mit den Vorspeisen? Hat sie davon welche gegessen?«
»Gott, Nat. Ich weiß es nicht. Ich meine, wahrscheinlich von dem Gemüse und dem Dip. Ich entsinne mich, dass dein Vater ihr das ganze Tablett angeboten hat, aber irgendwie hab ich gedacht, ihr beide hättet es dann mit raus zum Grill genommen. Wer weiß?« Sie kräuselt unsicher die Nase. »Wie fühlst du dich jetzt, nach allem?«
Ich wedele sinnlos mit den Händen. Ich bin immer erstaunt, wie ausgelaugt und apathisch ich mich fühle, wenn ich mich von meinem Dad verabschiedet habe. Das Zusammensein mit ihm kostet mich unglaublich viel Kraft.
»Na ja«, sage ich. »Ich hab mir alles angehört, und ich kann mir nicht einreden, dass die Burschen, Molto und Brand, sich einfach was zusammenspinnen, weil alles, was sie sagen, Hand und Fuß hat. Aber ich glaube es trotzdem nicht«, erkläre ich.
»Solltest du auch nicht.« Anna, schon immer der größte Fan meines Vaters, hat ihn standhaft verteidigt. »Es ist nämlich unmöglich.«
»>Unmöglich Ich weiß nicht, es würde jedenfalls nicht gegen die Gesetze der Physik verstoßen.« Annas grüne Augen gleiten zu mir rüber. Die Philosophennummer zieht bei ihr nie.
»Dein Vater hätte so etwas niemals getan.«
Ich denke kurz darüber nach. »Ich weiß, du hast für ihn gearbeitet, aber privat ist mein Dad wirklich total verkrampft.« Anna und ich erleben solche Augenblicke wie jetzt regelmäßig: Ich mache meinen Zweifeln Luft, und sie hilft mir, darüber hinwegzukommen. »Einmal - da muss ich zwölf gewesen sein, weil wir aus Detroit zurückgekommen waren und mein Dad noch Prozessrichter war - sind er und ich irgendwohin gefahren. Er hatte da gerade den Vorsitz in einem spektakulären Prozess. Die Frau eines Geistlichen in einer von diesen Megakirchen hatte ihren Mann ermordet. Wie sich herausstellte, war er schwul gewesen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, und als sie dahinterkam, tötete sie ihn, indem sie ihm seinen du weißt schon abschnitt, während er schlief. Er ist verblutet.«
»Das war ja dann wohl deutlich genug«, sagt Anna und lacht ein bisschen. Frauen finden so etwas immer amüsanter als Männer.
»Oder zu deutlich«, erwidere ich. »Jedenfalls, den Verteidigern blieb kaum eine andere Wahl, als auf Unzurechnungsfähigkeit zu plädieren. Sie riefen jede Menge Zeugen auf, die aussagten, dass die Frau ansonsten lieb und nett war und sie ihr so etwas nie zugetraut hätten. Und ich fragte meinen Dad, was er dazu meinte. Das war immer toll, weil ich wusste, dass er solche Fragen bei niemandem sonst beantwortet
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