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Der letzte Beweis

Der letzte Beweis

Titel: Der letzte Beweis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Turow
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glauben, weil er damals zugegeben hatte, gemauschelt zu haben. Das Leben war nicht besonders fair, dachte Tommy nicht zum ersten Mal.
    »Okay«, sagte Molto, nachdem er einige Minuten lang das Für und Wider abgewogen hatte, »ich sag dir, wie es jetzt weitergeht. Ich werde Richter Yee sagen, wir hätten festgestellt, dass der PC nicht lückenlos gesichert war: Der Computer hat in der Nacht, ehe er vor Gericht eingeschaltet wurde, in deinem Büro gestanden. Die Folie war entfernt worden, und wie wir erst jetzt erfahren haben, war das Sicherheitssiegelband, anders als bislang angenommen, nicht so angebracht, dass es unmöglich gewesen wäre, den Computer einzuschalten. Demnach hätte jeder, der sich in jener Nacht oder früh am nächsten Morgen in den Büroräumen der Staatsanwaltschaft aufgehalten hat, den PC manipulieren können. Wir behaupten nicht, dass das passiert ist. Aber da Sabich sich niemals schuldig bekannt hätte, wenn er von der Schwachstelle gewusst hätte, beantragen wir, das Urteil aufzuheben und auch diese Anklage fallen zu lassen.
    Und du wirst innerhalb der nächsten dreißig Tage deinen Rücktritt erklären. Weil es nämlich einen Riesenärger geben wird, wenn Rusty wieder straffrei ausgeht. Und es war dein Fehler, dass der Computer nicht vorschriftsmäßig gesichert war. Du wirst die Schuld dafür auf dich nehmen, dass Sabich freikommt. Weil es deine Schuld ist, Jim.«
    »Womit meine Kandidatur im Arsch ist«, sagte Brand.
    »Womit deine Kandidatur im Arsch ist«, sagte Molto.
    »Und dafür soll ich mich bedanken?«, fragte Brand.
    »Könntest du. Ich glaube, das wirst du auch, wenn du in Ruhe darüber nachgedacht hast.«
    »Ich find's beschissen«, sagte Brand.
    Tommy zuckte die Achseln. »Wir leben in einer ziemlich beschissenen Welt, Jimmy«, sagte er. »Zumindest manchmal.« Er stand auf. »Ich rufe jetzt Sandy Stern an.«
    Brand war in die Enge getrieben und verbittert, und er kaute unbewusst auf einem Daumennagel. »Ist der immer noch nicht tot?«
    »Soweit ich weiß, nein. Ich hab sogar gehört, es geht ihm besser. Da sieht man mal wieder, Jimmy.«
    »Was sieht man?«
    »Den Grund, warum wir morgens aufstehen. Weil man einfach nie weiß, was kommt.« Er sah Brand an, den er einmal geliebt hatte, und schüttelte den Kopf. »Niemals.«

Kapitel 44
    Anna, 6.-7. August 2009
     
    »Halt dich fest«, sagt Nat als Erstes zu mir, als ich bei mir im Büro an mein Handy gehe, und dann wiederholt er es noch mal. Immer, wenn ich denke, Nat und ich haben die letzte Welle überstanden und es kann nicht noch verrückter kommen, dass wir endlich auf ein normales Leben zusteuern, passiert wieder was. »Ich hab gerade mit Sandy telefoniert. Die lassen meinen Vater raus. Ist das zu fassen? Die heben das Urteil auf.«
    »Oh, Nat.«
    »Ist das zu fassen? Anscheinend hat Molto von dem Beweismittelspezialisten erfahren, dass der Computer in der Nacht, ehe ich ihn eingeschaltet hab, nicht ordnungsgemäß gesichert war. Damit war die Beweiskette unterbrochen, und ohne lückenlose Beweiskette keine beweisbare Straftat.«
    »Ich komm nicht mehr mit.«
    »Ich auch nicht. Nicht so richtig. Und Sandy auch nicht. Aber Yee hat den Beschluss schon unterschrieben. Sandy hat meinen Vater noch nicht erreicht, weil Leute in Einzelhaft keine unangemeldeten Telefonanrufe kriegen dürfen. Ist das nicht zum Brüllen? Stern warten jetzt auf den Rückruf vom Direktor.« Gleich darauf meldet ein Tuten in Nats Telefon einen Anrufer, und er sagt, er muss mich wegdrücken, damit er mit Marta reden kann.
    Ich sitze in meinem kleinen Büro, betrachte das Foto von Nat auf meinem Schreibtisch und bin für ihn erleichtert, freue mich richtig über seine Freude. Und dennoch ist da in meinem Herzen ein kalter Winkel. Ich hätte es mir nie so gewünscht, aber die hässliche Wahrheit ist, dass es für mich leichter war, seit Rusty fort war, seit es keine verwirrenden Begegnungen mehr gab, in denen die Kommunikation von beiden Seiten bewusst gestört war und jeder von uns offensichtlich die Sekunden zählte, bis wir uns voneinander verabschieden konnten. Seit Barbaras Tod haben wir fast kein Wort miteinander geredet und kaum mal den Blick gehoben, um uns anzusehen. Die einzige echte Ausnahme war in dem Moment gleich nach der Urteilsverkündung, als Rusty sich umdrehte und mit offensichtlicher Verblüffung sah, dass ich im Gerichtssaal neben Nat saß. Das Wort »komplex« wird diesem Blick nicht gerecht. Sehnsucht. Missbilligung. Unverständnis.

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